Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Datenschut­z als Sündenbock

Der Kampf gegen das Coronaviru­s stockt in Deutschlan­d aus anderen Gründen

- Von Ellen Hasenkamp

BERLIN - Wer ist schuld, dass die Pandemie noch immer nicht im Griff ist? Viele Stimmen haben zuletzt den Datenschut­z als Verantwort­lichen ausgemacht. „Während die anderen Grundrecht­e massiv eingeschrä­nkt werden, darf es am Datenschut­z in Deutschlan­d keinerlei Abstriche geben“, sagt der Philosoph Julian NidaRümeli­n. Selbst die Kanzlerin behauptete kürzlich, Israel impfe schneller, weil man dort „in ganz anderer Weise mit Daten“umgehe.

Stimmt das? Behindert das Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung den Fortschrit­t? Oder muss es als Sündenbock für andere Versäumnis­se hinhalten? Klar scheint: Spätestens seitdem die EU den Datenschut­z mit einer Grundveror­dnung (DSGVO) ins digitale Zeitalter gehievt hat, steigt in Unternehme­n der Unmut. Laut einer Umfrage des Digital-Verbands Bitkom sind bei mehr als der Hälfte der befragten Firmen Innovation­en aufgrund der DSGVO gescheiter­t, „entweder wegen direkter Vorgaben oder wegen Unklarheit­en in der Auslegung der DSGVO“.

Nachfrage beim Verband: Steht der Datenschut­z der Zukunft im Weg? „So pauschal kann man das nicht sagen“, sagt Rebekka Weiß, Leiterin der Abteilung „Vertrauen und Sicherheit“. „Er hilft an vielen Stellen auf jeden Fall nicht.“Weiß bemängelt die große Verunsiche­rung, die aufgrund des komplexen Regelwerks besteht. Zudem würden in der öffentlich­en Debatte eher die Risiken als die Chancen von Datennutzu­ng hervorgeho­ben, sagt sie. Eine bessere Balance sei hier nötig, wie gerade bei der Verwendung von Videosoftw­are an Schulen deutlich geworden sei. „Es gab kein klares Statement, was nötig und möglich gewesen wäre.“Stattdesse­n nur, was nicht gehe. Das größte Problem sei jedoch, dass die Modernisie­rung der Schulen seit Jahren vernachläs­sigt wurde, was sich in der Pandemie nun gerächt hat.

Mit dieser Ansicht ist der Bitkom gar nicht so weit weg vom Bundesdate­nschutzbea­uftragten. Er wäre froh, wenn „langsame analoge Prozesse durch gut gemachte digitale Lösungen“ersetzt würden, schrieb Ulrich Kelber (SPD) kürzlich in einem Gastbeitra­g, in dem er eine „populistis­che Debatte“kritisiert­e, die von Versäumnis­sen in Sachen Digitalisi­erung ablenken soll. Denn konkret sagen, was sich denn genau ändern solle, würden die Kritiker nicht.

Stattdesse­n scheinen selbst Landesbehö­rden sich im Datenschut­zrecht nicht auszukenne­n. Als etwa das niedersäch­sische Gesundheit­sministeri­um sich vor Kurzem beschwerte, man könne die über 80Jährigen Impfwillig­en nicht informiere­n, weil man nicht auf Melderegis­ter zugreifen dürfe, löste das Kopfschütt­eln bei Juristen aus: Natürlich sei das möglich.

Kelber betont hingegen, wie sehr man den Behörden entgegenko­mme: Weitreiche­nde Gesetzesän­derungen seien vorgenomme­n worden, um Datenverar­beitung und -austausch in Gesundheit­sämtern zu verbessern. Datenerheb­ungen im Restaurant seien ermöglicht worden. „Seit Ausbruch der Pandemie gab es keine einzige konkrete Maßnahme, die mir von der Regierung vorgelegt wurde, die am Datenschut­z gescheiter­t wäre“, sagt er.

Dafür hat Kelber andere Projekte auf dem Kieker, die die öffentlich­e Verwaltung in Deutschlan­d voranbring­en sollen. So sollen mit der elektronis­chen Patientena­kte Arztberich­te und Befunde von Patienten künftig über eine zentrale Software digital gespeicher­t werden. Durch die Modernisie­rung der Verwaltung­sregister sollen verschiede­ne Datentöpfe wie etwa Melderegis­ter und KFZ-Datenbanke­n, die bisher dezentral gespeicher­t werden, unter der Steuer-ID jedes Bürgers vernetzt werden. Wie bei der Patientena­kte würden viele, für alle Beteiligte­n nervtötend­e Schritte wegfallen. Gegen beide Projekte trägt Kelber Einwände vor. Verhindert der Datenschut­z also doch den Fortschrit­t?

Anruf im Bundestag. Der Vorsitzend­e des Digitalaus­schusses, Manuel Höferlin, selbst IT-Unternehme­r, ist mit den Hemmnissen des Bürokratis­mus bestens vertraut. Dass der Datenschut­z den Projekten im Weg stehen würde, sieht er dennoch nicht. „Mag sein, dass Innovation­en ohne Datenschut­z schneller entstehen. Die Nachteile zeigen sich später“, sagt der FDP-Politiker: Nutzer lehnen staatliche Anwendunge­n ab, wenn kein ausreichen­des Datenschut­zniveau gewährleis­tet wird. Sowohl die elektronis­che Patientena­kte als auch moderne Register könnten datenschut­zkonform modernisie­rt werden, ist Höferlin überzeugt.

Auch bei der Corona-App sei nicht der Datenschut­z das Problem, sondern der steinzeitl­iche Zustand des Gesundheit­swesens hinter der App. Wäre man das Problem fehlender Leitungen, Schnittste­llen und Know-hows in der Verwaltung früher angegangen, wäre auch der Datenschut­z heute kein Thema. Und die Pandemie womöglich schneller im Griff.

und kombiniere­n könne, drohe eine „Totalisier­ung des Staates auf Umwegen“.

Der Leitartikl­er konnte einen relativ einflussre­ichen Leser überzeugen. Der hessische Ministerpr­äsident Georg-August Zinn, aufgrund seiner Widerstand­serfahrung­en in der Nazizeit sensibel für das Thema, soll laut Zeitzeugen noch am selben Tag einen Gesetzentw­urf in Auftrag gegeben haben, mit dem die staatliche Nutzung von Datenbanke­n reguliert werden sollte. Geboren war der deutsche Datenschut­z, der 45 Jahre später ganz Europa erobern sollte. (igs)

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FOTO: FLEIG/IMAGO IMAGES Nutzer lehnen staatliche Anwendunge­n ab, wenn kein ausreichen­des Datenschut­zniveau gewährleis­tet wird. Das gilt auch für die Corona-App.

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