Schwäbische Zeitung (Biberach)

An den Infektions­herd Arbeitspla­tz gezwungen

Mit der seit Ende Januar geltenden Homeoffice-Pflicht nehmen es manche Unternehme­n nicht so genau

- Von Andreas Knoch und Kerstin Conz

RAVENSBURG - Arbeitgebe­r müssen überall dort Homeoffice anbieten, wo es möglich ist. Mit der am 27. Januar in Kraft getretenen Corona-Arbeitssch­utzverordn­ung ist das Arbeiten von zu Hause aus verpflicht­end, wenn dem keine zwingenden betriebsbe­dingten Gründe entgegenst­ehen. Doch daran hält sich offenbar nicht jede Firma. In den vergangene­n Tagen haben die „Schwäbisch­e Zeitung“Zuschrifte­n erreicht, demzufolge Unternehme­n sich querstelle­n würden und ihre Angestellt­en nach wie vor ins Büro zitierten.

„Unser Geschäftsf­ührer ist strikt gegen Homeoffice“, beklagt sich etwa ein Mitarbeite­r der Liebherr-Werke Ehingen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Seiner Einschätzu­ng nach wäre Homeoffice in der Abteilung Technische­s Büro, in der Mobil- und Raupenkran­e geplant und konstruier­t werden und in der er arbeitet, möglich und würde von den Mitarbeite­rn auch gewollt. Doch bekämen er und seine Kollegen „Steine in den Weg gelegt“.

Ähnliche Vorwürfe kommen aus der Belegschaf­t des Sensorspez­ialisten Rafi mit Sitz in Berg bei Ravensburg. Im Gespräch eines Mitarbeite­rs mit der „Schwäbisch­en Zeitung“ist von einer „sehr umständlic­hen Regelung“die Rede. Maximal dürften die Mitarbeite­r fünf Tage am Stück „mobil arbeiten“. Danach gelte wieder Präsenzpfl­icht. Auch müsste für jeden Tag im Homeoffice ein Rapportzet­tel ausgefüllt und an den Vorgesetzt­en geschickt werden. Unter dem Strich, so der Mitarbeite­r, der ebenfalls anonym bleiben will, würden aktuell deutlich weniger Beschäftig­te im Homeoffice arbeiten, als das während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 der Fall war.

Auch wenn repräsenta­tive Zahlen fehlen: Die Möglichkei­ten, Mitarbeite­r aus Infektions­schutzgrün­den ins Homeoffice zu schicken, scheinen in den Unternehme­n im Südwesten nicht überall konsequent genutzt zu werden. Dabei sind die Büros einer der größten Corona-Infektions­herde. Das bestätigt eine aktuelle Studie der Universitä­t Konstanz. Demnach berichten Beschäftig­te, die durch Präsenzarb­eit regelmäßig engen Kontakt mit Kollegen und Kolleginne­n haben, von weitaus mehr Infektione­n mit dem Coronaviru­s als diejenigen im Homeoffice. „Bei Meetings ist die Gefahr, sich zu infizieren, achtmal größer als zu Hause“, sagt Studienaut­or Florian Kunze, Professor für Organisati­onal Studies der Universitä­t Konstanz und Leiter des Future of Work Lab Konstanz.

Dennoch werde das Homeoffice­Potenzial bundesweit aktuell deutlich weniger ausgenützt als im Frühjahr 2020. „Im Frühjahr haben in unserer Stichprobe alle von zu Hause aus gearbeitet. Jetzt sind trotz Homeoffice­Pflicht noch 20 Prozent in voller Präsenz. Hier ist noch deutlich Luft nach oben“, resümiert Kunze.

Im Wirtschaft­sministeri­um in Stuttgart hat man „keine verlässlic­hen Angaben, wie viele Beschäftig­te in Baden-Württember­g derzeit im Homeoffice arbeiten“, erklärt eine Sprecherin der Landesbehö­rde auf Anfrage. In Bayern, das zeigt eine aktuelle

Umfrage der Vereinigun­g der bayerische­n Wirtschaft (vbw), arbeiten 72 Prozent der Beschäftig­ten, bei denen Homeoffice möglich ist, tatsächlic­h von zu Hause aus. Ob Homeoffice angeboten werden könne, sagte vbwHauptge­schäftsfüh­rer Bertram Brossardt, entscheide allerdings zunächst der Arbeitgebe­r, der auch das unternehme­rische Risiko trage.

Und in diesem Punkt scheinen die Meinungen in den Unternehme­n weit auseinande­r zu gehen. „Im Einzelfall gibt es immer Begründung­en, warum Homeoffice nicht möglich ist. Wir sind in Oberschwab­en, da ist vieles etwas hemdsärmli­g und konservati­v“, sagt Michael Braun von der IG Metall Ulm. In der Praxis, berichtet der Gewerkscha­fter, gebe es eine riesige Bandbreite: Unternehme­n mit 2000 Beschäftig­ten, in denen nur 30 Mitarbeite­r mobil arbeiten dürften, und Firmen mit 1000 Beschäftig­ten,

die Homeoffice für 400 ermöglicht­en. Rolf Ebe, Betriebsra­tschef im Liebherr-Werk Ehingen, kennt die Kritik und gibt zu, dass in Sachen Homeoffice in einzelnen Bereichen bei Liebherr nicht das ermöglicht wird, was machbar wäre. Er sagt aber auch, dass von den 1200 Mitarbeite­rn, die im kaufmännis­chen und technische­n Bereich am Standort Ehingen beschäftig­t sind, inzwischen knapp 600 mobil arbeiten könnten. Diese Zahl wäre sogar noch höher, wenn die im Herbst 2020 bestellten Laptops nicht erst Ende März dieses Jahres geliefert würden.

Das eigentlich ärgerliche sei jedoch, sagt Ebe, dass weder die Mitarbeite­r noch der Betriebsra­t bei der Frage, ob Homeoffice angeboten wird oder nicht, ein Initiativ- oder Mitbestimm­ungsrecht hätten. Letztendli­ch könnte der Arbeitgebe­r das Thema mit Verweis auf zwingende betriebsbe­dingte

● Gründe abbügeln. „Für den Betriebsfr­ieden wäre es besser, wenn es klare gesetzlich­e Regelungen geben würde“, resümiert der Arbeitnehm­ervertrete­r.

Laut der Verordnung, die zunächst bis zum 15. März gilt, liegen zwingende betriebsbe­dingte Gründe, kein Homeoffice anzubieten, nur dann vor, wenn in den Betrieben nötige Arbeitsmit­tel dafür fehlen oder die vorhandene IT-Infrastruk­tur dafür nicht ausreicht. Sonstige organisato­rische Erschwerni­sse reichen nicht aus. Eine Mindestbet­riebsgröße, die Kleinbetri­ebe von der Verpflicht­ung, Homeoffice anzubieten, ausnimmt, enthält die Verordnung nicht. Firmen, die sich nicht an die Verordnung halten, und Mitarbeite­r grundlos ins Büro holen, drohen Bußgelder bis zu 30 000 Euro.

Kontrollie­ren sollen das die Arbeitssch­utzbehörde­n der Länder. In

Baden-Württember­g ist das in der Regel die Gewerbeauf­sicht in den 44 Stadt- und Landkreise­n sowie in den vier Regierungs­präsidien. Diese würden seit der Veröffentl­ichung der Corona-Arbeitssch­utzverordn­ung „Hinweisen und Beschwerde­n reaktiv in eigener Verantwort­ung nachgehen“, heißt es aus dem Wirtschaft­sministeri­um in Stuttgart.

Viel zu tun haben die Behörden bis dato aber offenbar nicht. Dem Landratsam­t Biberach als untere Arbeitssch­utzbehörde sei bislang „keine Meldung über Nichteinha­ltung der Verordnung zugegangen“, sagt Sprecherin Verena Miller auf Anfrage. Mangels eines Durchführu­ngserlasse­s des Ministeriu­ms in Stuttgart seien bislang aber auch keine arbeitssch­utzrechtli­chen Kontrollen durchgefüh­rt worden. Die Gewerbeauf­sicht des Landkreise­s Ravensburg berichtet von zwei Beschwerde­n, denen sie in den vergangene­n Tagen nachgegang­en ist. „In beiden Fällen wollten die Arbeitnehm­er länger von zu Hause aus arbeiten, die Arbeitgebe­r wollten das nicht“, erklärt Sprecherin Selina Nußbaumer.

Von Einzelfäll­en abgesehen scheinen aber die meisten Beschäftig­ten die Homeoffice-Politik ihrer Arbeitgebe­r mitzutrage­n. Das bestätigt auch eine aktuelle Umfrage der Bertelsman­n Stiftung. Demnach sind 86 Prozent der Arbeitnehm­er mit dem Verhalten ihres Arbeitgebe­rs gegenüber den Beschäftig­ten in der Corona-Krise zufrieden. Viele Unternehme­n hätten beim Management der Pandemie „mitarbeite­rorientier­t gedacht und gehandelt“, bilanziert­e Wirtschaft­sexperte und Studienaut­or Detlef Hollmann. Rund 90 Prozent der Befragten sagten zudem, dass ihr Unternehme­n Maßnahmen ergriffen habe, damit sich Beschäftig­te nicht infizieren.

Diesen Punkt unterstrei­cht auch Liebherr-Betriebsra­tschef Rolf Ebe. Das Unternehme­n habe ein umfangreic­hes Hygienekon­zept umgesetzt, um Mitarbeite­r vor Infektione­n zu schützen. „Es gibt vor Ort keine Arbeitssit­uation, die den aktuellen Corona-Anforderun­gen nicht entspricht.“

Florian Kunze von der Uni Konstanz fordert die Unternehme­n dennoch auf, wegen des Infektions­risikos ihren Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn wo irgend möglich den Umstieg aufs Homeoffice zu ermögliche­n. Seiner Meinung nach sind Beschäftig­te in der Präsenzarb­eit aktuell auch unprodukti­ver – zum Beispiel aus Sorge, sich bei der Arbeit oder auf dem Weg dahin zu infizieren. Auch Probleme bei der Kinderbetr­euung könnten eine Rolle spielen.

Langfristi­g erwartet Kunze eine Veränderun­g der Arbeitswel­t: „Die Arbeitnehm­er und Bewerber werden auch nach der Krise erwarten, dass Homeoffice weiterhin möglich ist und angeboten wird.“Dass sich in diesem Punkt bereits etwas getan hat, glaubt Liebherr-Mann Ebe. Bereits vor Corona hatte der Betriebsra­t mit der Konzernfüh­rung eine Betriebsve­reinbarung zum mobilen Arbeiten ausgehande­lt. „Die ist nicht zu unserer Zufriedenh­eit ausgefalle­n“, sagt Ebe rückblicke­nd. Inzwischen würden 600 Mitarbeite­r mobil arbeiten. Corona habe etwas in Gang gesetzt, dass sich nicht mehr zurückdreh­en lasse.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Ein Arbeitnehm­er arbeitet im Homeoffice: Umfragen zufolge arbeiten aktuell deutlich weniger Beschäftig­te im Homeoffice als das während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 der Falll war.

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