Schwäbische Zeitung (Biberach)
An den Infektionsherd Arbeitsplatz gezwungen
Mit der seit Ende Januar geltenden Homeoffice-Pflicht nehmen es manche Unternehmen nicht so genau
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RAVENSBURG - Arbeitgeber müssen überall dort Homeoffice anbieten, wo es möglich ist. Mit der am 27. Januar in Kraft getretenen Corona-Arbeitsschutzverordnung ist das Arbeiten von zu Hause aus verpflichtend, wenn dem keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen. Doch daran hält sich offenbar nicht jede Firma. In den vergangenen Tagen haben die „Schwäbische Zeitung“Zuschriften erreicht, demzufolge Unternehmen sich querstellen würden und ihre Angestellten nach wie vor ins Büro zitierten.
„Unser Geschäftsführer ist strikt gegen Homeoffice“, beklagt sich etwa ein Mitarbeiter der Liebherr-Werke Ehingen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Seiner Einschätzung nach wäre Homeoffice in der Abteilung Technisches Büro, in der Mobil- und Raupenkrane geplant und konstruiert werden und in der er arbeitet, möglich und würde von den Mitarbeitern auch gewollt. Doch bekämen er und seine Kollegen „Steine in den Weg gelegt“.
Ähnliche Vorwürfe kommen aus der Belegschaft des Sensorspezialisten Rafi mit Sitz in Berg bei Ravensburg. Im Gespräch eines Mitarbeiters mit der „Schwäbischen Zeitung“ist von einer „sehr umständlichen Regelung“die Rede. Maximal dürften die Mitarbeiter fünf Tage am Stück „mobil arbeiten“. Danach gelte wieder Präsenzpflicht. Auch müsste für jeden Tag im Homeoffice ein Rapportzettel ausgefüllt und an den Vorgesetzten geschickt werden. Unter dem Strich, so der Mitarbeiter, der ebenfalls anonym bleiben will, würden aktuell deutlich weniger Beschäftigte im Homeoffice arbeiten, als das während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 der Fall war.
Auch wenn repräsentative Zahlen fehlen: Die Möglichkeiten, Mitarbeiter aus Infektionsschutzgründen ins Homeoffice zu schicken, scheinen in den Unternehmen im Südwesten nicht überall konsequent genutzt zu werden. Dabei sind die Büros einer der größten Corona-Infektionsherde. Das bestätigt eine aktuelle Studie der Universität Konstanz. Demnach berichten Beschäftigte, die durch Präsenzarbeit regelmäßig engen Kontakt mit Kollegen und Kolleginnen haben, von weitaus mehr Infektionen mit dem Coronavirus als diejenigen im Homeoffice. „Bei Meetings ist die Gefahr, sich zu infizieren, achtmal größer als zu Hause“, sagt Studienautor Florian Kunze, Professor für Organisational Studies der Universität Konstanz und Leiter des Future of Work Lab Konstanz.
Dennoch werde das HomeofficePotenzial bundesweit aktuell deutlich weniger ausgenützt als im Frühjahr 2020. „Im Frühjahr haben in unserer Stichprobe alle von zu Hause aus gearbeitet. Jetzt sind trotz HomeofficePflicht noch 20 Prozent in voller Präsenz. Hier ist noch deutlich Luft nach oben“, resümiert Kunze.
Im Wirtschaftsministerium in Stuttgart hat man „keine verlässlichen Angaben, wie viele Beschäftigte in Baden-Württemberg derzeit im Homeoffice arbeiten“, erklärt eine Sprecherin der Landesbehörde auf Anfrage. In Bayern, das zeigt eine aktuelle
Umfrage der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw), arbeiten 72 Prozent der Beschäftigten, bei denen Homeoffice möglich ist, tatsächlich von zu Hause aus. Ob Homeoffice angeboten werden könne, sagte vbwHauptgeschäftsführer Bertram Brossardt, entscheide allerdings zunächst der Arbeitgeber, der auch das unternehmerische Risiko trage.
Und in diesem Punkt scheinen die Meinungen in den Unternehmen weit auseinander zu gehen. „Im Einzelfall gibt es immer Begründungen, warum Homeoffice nicht möglich ist. Wir sind in Oberschwaben, da ist vieles etwas hemdsärmlig und konservativ“, sagt Michael Braun von der IG Metall Ulm. In der Praxis, berichtet der Gewerkschafter, gebe es eine riesige Bandbreite: Unternehmen mit 2000 Beschäftigten, in denen nur 30 Mitarbeiter mobil arbeiten dürften, und Firmen mit 1000 Beschäftigten,
die Homeoffice für 400 ermöglichten. Rolf Ebe, Betriebsratschef im Liebherr-Werk Ehingen, kennt die Kritik und gibt zu, dass in Sachen Homeoffice in einzelnen Bereichen bei Liebherr nicht das ermöglicht wird, was machbar wäre. Er sagt aber auch, dass von den 1200 Mitarbeitern, die im kaufmännischen und technischen Bereich am Standort Ehingen beschäftigt sind, inzwischen knapp 600 mobil arbeiten könnten. Diese Zahl wäre sogar noch höher, wenn die im Herbst 2020 bestellten Laptops nicht erst Ende März dieses Jahres geliefert würden.
Das eigentlich ärgerliche sei jedoch, sagt Ebe, dass weder die Mitarbeiter noch der Betriebsrat bei der Frage, ob Homeoffice angeboten wird oder nicht, ein Initiativ- oder Mitbestimmungsrecht hätten. Letztendlich könnte der Arbeitgeber das Thema mit Verweis auf zwingende betriebsbedingte
● Gründe abbügeln. „Für den Betriebsfrieden wäre es besser, wenn es klare gesetzliche Regelungen geben würde“, resümiert der Arbeitnehmervertreter.
Laut der Verordnung, die zunächst bis zum 15. März gilt, liegen zwingende betriebsbedingte Gründe, kein Homeoffice anzubieten, nur dann vor, wenn in den Betrieben nötige Arbeitsmittel dafür fehlen oder die vorhandene IT-Infrastruktur dafür nicht ausreicht. Sonstige organisatorische Erschwernisse reichen nicht aus. Eine Mindestbetriebsgröße, die Kleinbetriebe von der Verpflichtung, Homeoffice anzubieten, ausnimmt, enthält die Verordnung nicht. Firmen, die sich nicht an die Verordnung halten, und Mitarbeiter grundlos ins Büro holen, drohen Bußgelder bis zu 30 000 Euro.
Kontrollieren sollen das die Arbeitsschutzbehörden der Länder. In
Baden-Württemberg ist das in der Regel die Gewerbeaufsicht in den 44 Stadt- und Landkreisen sowie in den vier Regierungspräsidien. Diese würden seit der Veröffentlichung der Corona-Arbeitsschutzverordnung „Hinweisen und Beschwerden reaktiv in eigener Verantwortung nachgehen“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium in Stuttgart.
Viel zu tun haben die Behörden bis dato aber offenbar nicht. Dem Landratsamt Biberach als untere Arbeitsschutzbehörde sei bislang „keine Meldung über Nichteinhaltung der Verordnung zugegangen“, sagt Sprecherin Verena Miller auf Anfrage. Mangels eines Durchführungserlasses des Ministeriums in Stuttgart seien bislang aber auch keine arbeitsschutzrechtlichen Kontrollen durchgeführt worden. Die Gewerbeaufsicht des Landkreises Ravensburg berichtet von zwei Beschwerden, denen sie in den vergangenen Tagen nachgegangen ist. „In beiden Fällen wollten die Arbeitnehmer länger von zu Hause aus arbeiten, die Arbeitgeber wollten das nicht“, erklärt Sprecherin Selina Nußbaumer.
Von Einzelfällen abgesehen scheinen aber die meisten Beschäftigten die Homeoffice-Politik ihrer Arbeitgeber mitzutragen. Das bestätigt auch eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung. Demnach sind 86 Prozent der Arbeitnehmer mit dem Verhalten ihres Arbeitgebers gegenüber den Beschäftigten in der Corona-Krise zufrieden. Viele Unternehmen hätten beim Management der Pandemie „mitarbeiterorientiert gedacht und gehandelt“, bilanzierte Wirtschaftsexperte und Studienautor Detlef Hollmann. Rund 90 Prozent der Befragten sagten zudem, dass ihr Unternehmen Maßnahmen ergriffen habe, damit sich Beschäftigte nicht infizieren.
Diesen Punkt unterstreicht auch Liebherr-Betriebsratschef Rolf Ebe. Das Unternehmen habe ein umfangreiches Hygienekonzept umgesetzt, um Mitarbeiter vor Infektionen zu schützen. „Es gibt vor Ort keine Arbeitssituation, die den aktuellen Corona-Anforderungen nicht entspricht.“
Florian Kunze von der Uni Konstanz fordert die Unternehmen dennoch auf, wegen des Infektionsrisikos ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wo irgend möglich den Umstieg aufs Homeoffice zu ermöglichen. Seiner Meinung nach sind Beschäftigte in der Präsenzarbeit aktuell auch unproduktiver – zum Beispiel aus Sorge, sich bei der Arbeit oder auf dem Weg dahin zu infizieren. Auch Probleme bei der Kinderbetreuung könnten eine Rolle spielen.
Langfristig erwartet Kunze eine Veränderung der Arbeitswelt: „Die Arbeitnehmer und Bewerber werden auch nach der Krise erwarten, dass Homeoffice weiterhin möglich ist und angeboten wird.“Dass sich in diesem Punkt bereits etwas getan hat, glaubt Liebherr-Mann Ebe. Bereits vor Corona hatte der Betriebsrat mit der Konzernführung eine Betriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten ausgehandelt. „Die ist nicht zu unserer Zufriedenheit ausgefallen“, sagt Ebe rückblickend. Inzwischen würden 600 Mitarbeiter mobil arbeiten. Corona habe etwas in Gang gesetzt, dass sich nicht mehr zurückdrehen lasse.