Schwäbische Zeitung (Biberach)
Voraussetzung für Überwachung gegeben
Nach Bluttat am Ravensburger Bahnhof gibt es keine Gründe mehr, dort keine Kameras aufzuhängen
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RAVENSBURG - Nach der Bluttat am Ravensburger Bahnhof hat Oberbürgermeister Daniel Rapp schon am Tag des Bekanntwerdens des mutmaßlichen Raubmordes künftig Videoüberwachung am Bahnhof gefordert. Das Thema ist nicht neu und steht schon lange auf Rapps Agenda – doch bisher hatte er mit der Realisierung keinen Erfolg. Nun könnte sich die Lage verändert haben, meint der für Ordnungsangelegenheiten zuständige Erste Bürgermeister Simon Blümcke.
Dass am Ravensburger Bahnhof eine 62-jährige Frau am Dienstagabend von einer polizeibekannten und wegen Raubes vorbestraften 15-Jährigen mutmaßlich brutal überfallen und durch einen Messerstich in den Hals tödlich verletzt wurde, hat die Stadt schockiert. Die Jugendliche soll ihr Opfer zufällig ausgesucht und es auf die Handtasche der Frau abgesehen haben. Sie machte bei der Tat wohl auch Beute – die Staatsanwaltschaft geht laut Oberstaatsanwalt Wolfgang Angster davon aus, dass die Jugendliche Gegenstände aus der Tasche der Frau mitnahm. Das Mädchen wurde noch am Mittwoch festgenommen und sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Zur Tat macht sie laut Staatsanwaltschaft keine Angaben.
Bei den Ermittlungen hat der Polizei geholfen, dass eine private Videokamera in der Nähe Erkenntnisse zum Geschehen vor und nach der Tat aufgezeichnet hat. Vermutlich war die Tatverdächtige darauf zu sehen, die Polizei sucht nämlich nach dem genau beschriebenen Kleidungsstück, das sie zur Tatzeit getragen haben soll. Ob auch der Staat öffentliche Plätze, an denen Straftaten begangen werden, überwachen soll, ist strittig. Datenschützer verweisen auf das Recht, sich als Bürger frei bewegen zu dürfen, ohne ständig von Kameras beäugt zu werden. Die Ravensburger Stadtspitze und die Polizei hingegen würden es begrüßen, wenn die rechtlichen Hürden für Videoüberwachung im öffentlichen Raum abgesenkt würden.
„Man müsste sich mal ehrlich machen in dieser Hinsicht“, sagte der Ravensburger Polizeipräsident Uwe Stürmer am Freitag auf SZ-Anfrage. Die Polizei greife immer wieder auf Videomaterial von Geschäften, Banken, Privatleuten zu, um Verbrechen aufzuklären. In der Regel werde das Material ohne Schwierigkeiten an die Polizei herausgegeben. Ob es an einem Tatort Videoaufzeichnungen gibt, hänge somit aber vom Zufall ab, auch die Qualität sei bei privaten Überwachungskameras mitunter schlecht. Videoaufnahmen seien in den vergangenen Jahren aber zu einem oft wichtigen Beweismittel geworden.
„Ich bin dafür, Videoüberwachung maßvoll zu erhöhen“, sagt Stürmer. Dabei denke er an Aufzeichnungen, die nur gesichtet würden, wenn eine Straftat passiert ist. Der Eingriff in das Datenschutzgrundrecht sei aus seiner Sicht vernachlässigbar, wenn durch
ANZEIGEN die Überwachung ein Kapitaldelikt entweder verhindert oder aufgeklärt werden kann. Eine politische Absenkung rechtlicher Hürden für Videoüberwachung würde er begrüßen.
Oberbürgermeister Daniel Rapp will sich mit genau dieser Forderung an die Landespolitik wenden, wie er am Mittwoch ankündigte (die SZ berichtete). Bisher war innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen eine Videoüberwachung am Ravensburger Bahnhofsvorplatz nicht möglich.
Möglicherweise hat die von der Polizei und Staatsanwaltschaft als Raubmord bezeichnete Tat am Dienstagabend die Einschätzung der Sicherheitslage am Ravensburger Bahnhof zugunsten der Möglichkeit zur künftigen Videoüberwachung verändert. So sieht es jedenfalls der für Ordnungsangelegenheiten zuständige Erste Bürgermeister Simon Blümcke.
Videoüberwachung ist entweder gemäß Landesdatenschutzgesetz zur Sicherung zum Beispiel des Bahnhofsgebäudes vor Schäden möglich, was in Ravensburg schon diskutiert, von der Bahn aber mit Verweis auf nicht vorliegende bahnbetriebliche oder polizeiliche Kriterien Ende 2018 abgelehnt wurde. Neuer Stand, den eine Bahnsprecherin am Freitag mitteilte, ist, dass bis Ende 2024 alle großen Bahnhöfe Deutschlands mit Videotechnik ausgestattet sein sollen – welche das sind, werde gemeinsam mit der Bundespolizei anhand von Aufkommen an Reisenden, Bahnhofsgröße und Großveranstaltungen festgelegt. Ob Ravensburg dabei sein wird, dürfte unter diesen Vorgaben als fraglich gelten.
Voraussetzung für die polizeiliche Videoüberwachung ist, dass es sich bei dem Platz um einen Kriminalitätsschwerpunkt handelt. Im Corona-Jahr 2020 ist die Anzahl der Straftaten am Bahnhof aber deutlich zurückgegangen. Zuvor war ein Anstieg zu verzeichnen gewesen – von 146 Straftaten im Jahr 2018 auf 215 Taten im Jahr 2019 im Bereich des Bahnhofs. Die genauere Betrachtung der Vorfälle zeigt laut Polizei, dass sich in diesem Zeitraum die Zahl der Körperverletzungen fast verdreifacht hat. Die meisten Straftaten am Bahnhof hatten zuletzt mit Drogenkriminalität zu tun.
Den Rückgang in der Statistik führt die Polizei nicht nur auf Corona und fehlendes Nachtleben in Ravensburg zurück, sondern auch auf den eingeschränkten Betrieb am Bahnhof wegen der Sperrung für die Elektrifizierungsarbeiten. Weiter teilt die Polizei mit: „Grundsätzlich stellt der Bahnhof aber einen Anziehungs- und Sammelpunkt für die örtliche sowie überörtliche Obdachlosen-, Trinkerund Rauschgiftszene dar. Unserer Einschätzung nach wird ein nicht geringer Teil der im Bahnhofsbereich begangenen Straftaten dabei innerhalb dieser Szene verübt, oder die Täterschaft ist innerhalb dieser Szene zu suchen. Passanten und Bahnreisende sind zwar auch, aber deutlich weniger betroffen.“