Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Menschen leiden unter fehlendem Kontakt“
Dr. Carmen Holzapfel spricht über psychische Probleme in der Corona-Pandemie
BIBERACH - Isolation, fehlende soziale Kontakte, Einsamkeit, Krankheit: Die Lage wird immer prekärer, vor allem für Menschen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Aufgrund der andauernden Corona-Pandemie suchen aber immer mehr Menschen professionelle Hilfe auf, wenn es um ihre seelische Gesundheit geht. Dr. Carmen Holzapfel, Fachärztin für Psychiatrie und ärztliche Psychotherapeutin, ist Ärztliche Leiterin des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) am Berliner Platz in Biberach und kennt die Problematik. Tanja Bosch hat bei der Fachärztin nachgefragt, wie es vielen Menschen in der aktuellen Lage geht und wie sie sich selbst helfen können.
Frau Dr. Holzapfel, wie ist die aktuelle Lage am sozialpsychiatrischen Zentrum?
Carmen Holzapfel: Die Ärztinnen und Ärzte sowie auch alle anderen therapeutisch tätigen Kolleginnen und Kollegen haben gerade viel zu tun. Täglich rufen sehr viel mehr neue Patienten an als noch vor dem Lockdown und fragen meist nach ambulanter Psychotherapie. Die Menge der Anfragen überschreitet bei Weitem unsere Behandlungskapazitäten, sodass wir viele der Anrufenden an die niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten weiterverweisen.
Was sind die häufigsten Symptome, mit denen die Menschen aktuell zu Ihnen kommen?
Die Symptome der Menschen die sich bei uns vorstellen, sind vielfältig. Viele Menschen leiden unter den fehlenden Kontakten bis hin zur Vereinsamung, insbesondere wenn sie alleinstehend sind. Es wird häufig von Ängsten und teilweise zwanghaftem Verhalten wie beispielsweise Wasch- und Desinfektionszwang berichtet. Der Verlust der Selbstbestimmung und der Kontrolle über das eigene Leben führen bei manchen Menschen zu depressiven Reaktionen mit Antriebsund Motivationsproblemen, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Teilweise stehen die Existenzängste im Vordergrund oder auch die hohe Belastung in den Familien durch Homeoffice und Homeschooling, denen manche nicht gewachsen sind und deshalb chronische Stresssymptome entwickeln. Menschen, die zuvor schon psychisch belastet waren, dekompensieren unter der jetzigen Situation deutlich schneller, als wenn Ausgleichsmöglichkeiten über zwischenkönnen menschliche Kontakte, soziale und kulturelle Aktivitäten oder Sport gegeben wären.
Wie geht es den Menschen in der Corona-Krise, die ohnehin schon mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben?
Ein Teil dieser Menschen hat ordentlich zu kämpfen und einige benötigen zurzeit engmaschigere Termine oder müssen auch in eine stationäre Behandlung gehen, weil sie durch die eingeschränkten persönlichen Kontakte labiler sind und nicht mehr so gut aufgefangen werden können. Ein kleiner Teil der vorerkrankten Patienten erlebt die verordnete Reduktion der Außenkontakte als entlastend, weil sie davor von zu vielen Terminen und Verpflichtungen rasch überfordert waren und sich nur schwer abgrenzen konnten.
Sind Sie aktuell komplett ausgebucht?
Wir sind in der Tat sowohl in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) als auch im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) ausgebucht, versuchen aber durch die Notfallsprechstunde für akute Fälle, die in der Regel über die Hausärzte angemeldet werden, kurzfristig bei akuter Not Termine zu ermöglichen.
An wen können sich Menschen noch wenden, wenn sie akut mit psychischen Problemen zu kämpfen haben?
Es kommt natürlich auf die Problematik beziehungsweise die Symptome an und auf die Vorstellung des betroffenen Menschen. Wenn die familiäre Belastung im Lockdown die auslösende Ursache für die Probleme ist,
● die psychologischen Beratungsstellen eine erste Anlaufstelle sein. Auch die gemeindepsychiatrischen Zentren sowie die Telefonseelsorge bieten telefonische Hilfen bei psychischen Problemen. Menschen, die ärztliche Hilfe suchen und eine Hausärztin oder Hausarzt ihres Vertrauens haben, können sich für die erste Einschätzung an diese wenden und gegebenenfalls an die niedergelassenen Fachärzte für Psychiatrie oder Psychotherapeutische Medizin oder an die Psychiatrischen Institutsambulanzen in Biberach, Riedlingen, oder Bad Schussenried überwiesen werden. Wenn eine psychotherapeutische Behandlung (Verhaltenstherapie/tiefenpsychologische Therapie) gesucht wird, können sich die Klienten an jeden niedergelassenen psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten wenden, wohlwissend, dass aktuell der Bedarf deutlich höher geworden ist und die Kapazitäten der Kollegen begrenzt sind.
Wie können Sie helfen und den Betroffenen die Corona-Situation erleichtern? Schließlich ist ja die ganze Welt irgendwie betroffen und keiner weiß, wann ein Ende in Sicht ist.
Für mich als Fachärztin ist der erste Schritt in einem Gespräch mit dem betroffenen Menschen erst einmal zu klären welche Symptomatik vorliegt, wie sich die Lebenssituation darstellt und welche Themen am meisten belasten. Es stellt sich immer die Frage, benötigt der Klient in der aktuellen Konfliktsituation eine Beratung oder besteht eine krankheitswertige Symptomatik und wo bekommt er oder sie die adäquate
Hilfe. Eine gründliche Diagnostik ist bei Menschen, die sich erstmals mit psychischen Symptomen vorstellen die Voraussetzung für einen Therapievorschlag (zum Beispiel Psychotherapie, medikamentöse Behandlung). Häufig ist schon die Möglichkeit der Aussprache sehr entlastend. Viele Menschen sind durch die fehlende zeitliche Perspektive beim aktuellen Lockdown resigniert, was durch den sozialen Rückzug noch verstärkt wird. Ich ermutige die Patienten, jeden Tag so gut wie möglich für sich zu sorgen und die Aktivitäten, die möglich sind und ihnen Freude machen, auch zu tun, was ein Stück Selbstwirksamkeit zurückgibt und die Psyche stärkt.
Haben Sie weitere Tipps für Betroffene und Angehörige?
In dieser außergewöhnlichen Zeit ist es hilfreich eine gute Tagesstruktur zu haben mit einem guten Start in den Tag, einem ausgewogenen TagNacht-Rhythmus, regelmäßigen Mahlzeiten und abgegrenzten Arbeitsund Freizeiten. Für Körper und Seele ist die tägliche Runde an der frischen Luft gerade jetzt sehr wohltuend und wichtig und bringt in Familien mit Kindern allen Familienmitgliedern mehr Ausgeglichenheit. Die Pflege der Kontakte zu Freunden, Angehörigen oder wichtigen Menschen bei einem Spaziergang oder zurzeit oft über Telefon oder Skype, einen Brief oder über social media wirkt dem Gefühl des Isoliertseins entgegen. Natürlich sind alle Aktivitäten, die einem Freude machen wie beispielsweise Kochen, Musizieren, Lesen, Yoga, Basteln oder Ähnliches hilfreich und wohltuend.