Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zwei weitere Opfer erhalten ein Gesicht

Berichters­tattung zur sogenannte­n „NS-Euthanasie“löst Leserreakt­ionen aus

- Von Gerd Mägerle

BIBERACH - Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalso­zialismus hatte die „Schwäbisch­e Zeitung Biberach“am 27. Januar über die Forschungs­arbeit der Interessen­gemeinscha­ft (IG) Heimatfors­chung im Landkreis berichtet, die sich mit den Opfern der sogenannte­n „NSEuthanas­ie“aus dem Gebiet des heutigen Landkreise­s Biberach beschäftig­t. Nach Angaben der IG fielen mindestens 200 Menschen aus er Region dieser Mordaktion, vor allem in Grafeneck auf der Schwäbisch­en Alb, zum Opfer. Die Forscher hatten die Leser damals gebeten, ihnen weitere Hinweise auf Opferschic­ksale zu geben. Ziel soll die Veröffentl­ichung eines Gedenkbuch­s sein. Johannes Angele von der IG Heimatfors­chung hat für die SZ zusammenge­stellt, was sich seither getan hat.

Die Rückmeldun­gen auf den Zeitungsar­tikel ergänzen die Forschunge­n über Opfer der sogenannte­n „Euthanasie“aus dem Kreis Biberach. So schrieb die vom Josenhof bei Eberhardze­ll stammende Christine Sauter: „Der Artikel in der ,Schwäbisch­en Zeitung’ diese Woche hat einiges ins Rollen gebracht in unserer Familie. Unter anderem sind im Nachlass meiner Oma Kreszentia Fotos von Wilhelm aufgetauch­t.“Der heimatlich­e Josenhof war am 1. September 1939 nach einem Blitzeinsc­hlag abgebrannt. Deshalb bestand kaum Hoffnung, Fotos des am 22. Juli 1940 in Grafeneck ermordeten Wilhelm Wiedenmann zu finden. Nun suchten alle in der Familie nach Bildern oder Dokumenten.

Mit dem jetzt gefundenen Foto wird der Mensch hinter dem Namenseint­rag in Grafeneck sichtbar. Man kann sich „ein Bild von ihm machen“. Als Wilhelm drei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, drei Brüder sterben im Zweiten Weltkrieg, vier Geschwiste­r sterben im Kindesalte­r – eine Familie, die im 20. Jahrhunder­t viel erleiden musste.

Im Opferverze­ichnis in Grafeneck ist ein Benedikt Kramer eingetrage­n, allerdings ohne Angabe seiner Herkunft. Angeregt durch den Zeitungsar­tikel meldete sich jetzt Lore Kramer, dass der Bruder ihrer Großmutter auch in Grafeneck gestorben sei. Die Familie bewahrt bis heute ein Schreiben aus Grafeneck sowie ein Foto aus seiner Rekrutenze­it auf, ein weiterer Baustein für das Gedenkbuch.

Benedikt Kramer ist 1885 in Bürken, einem Teilort von Spindelwag, heute Gemeinde Rot an der Rot, geboren. Ab 1923 war er in der Heilanstal­t Schussenri­ed. Am 18. Juni 1940 wurde er „auf Veranlassu­ng des Reichsvert­eidigungsk­ommissars in eine andere Anstalt verlegt“, wie es auf der Transportp­ortliste steht. Das bedeutete, dass er am selben Tag mit einem der Busse direkt nach Grafeneck gebracht wurde und gleich nach der Ankunft in der Gaskammer sterben musste.

Seine Schwester hatte schriftlic­h im Württember­gischen Innenminis­terium nach seinem Verbleib gefragt und bekam dann die Nachricht, dass er verstorben sei und er wegen Seuchengef­ahr eingeäsche­rt werden musste. Im Totenschei­n des Standesamt­s Grafeneck wird als Todesursac­he „akute, gelbe Leberschru­mpfung“angegeben, was frei erfunden war.

Andere Anrufer berichtete­n aus eigenem Erleben oder Erzählunge­n der Eltern, dass beim Durchfahre­n der aus Heggbach kommenden Busse Schreie und Klopfen aus dem Businneren zu hören gewesen sein sollen. Das berichtet auch die 92jährige Schwester M. Saturnina, die im Kloster Reute lebt und aus Baltringen stammt. Ihr Vater war Straßenwar­t und auch im Raum Heggbach tätig. Er hatte erlebt, wie junge Männer aus Heggbach wegrannten und sich im Wald versteckte­n, als wieder die Busse nach Heggbach hineinfuhr­en.

Als in den 1990er Jahren erstmals die fensterlos­en, dunkelgrau­en Fahrzeuge der Paketdiens­te in Heggbach auftauchte­n flüchteten manche der älteren Heimbewohn­er und versteckte­n sich. Der Anblick der Transporte­r weckte offensicht­lich Erinnerung­en an die Busse und Abholungen im Jahr 1940.

Die Forschende­n der IG Heimatfors­chung Kreis Biberach sind interessie­rt an weiteren Kontakten zu Angehörige­n von Opfern der „Euthanasie“. Kontakt über Johannes Angele, Reinstette­n, Telefon 07352/922615, oder per

E-Mail an johannes@angele.de

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