Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Grenzen der Macht
Angela Merkel kritisiert die Ministerpräsidenten für mangelnde Umsetzung der Corona-Regeln – Welche Möglichkeiten die Kanzlerin nun hat
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BERLIN - Scharfe Kritik an Lockerungen und die Drohung, dass der Bund mehr durchgreifen könnte – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in der ARD-Sendung „Anne Will“ihren Unmut über nachlassende Anstrengungen zur Pandemie-Bekämpfung geäußert: Sie sei „am Nachdenken“darüber, welche Zusatzmaßnahmen nötig seien. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Warum erhöht die Kanzlerin den Druck auf die Bundesländer?
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Merkel bemängelte, dass manche Bundesländer die Notbremse ignorieren. Diese sieht vor, dass ab einem Inzidenzwert von 100 Lockerungen wieder rückgängig gemacht werden. Das Nichtziehen der Notbremse etwa in Nordrhein-Westfalen und Berlin sei ein Verstoß gegen Beschlüsse, monierte die Kanzlerin. Ebenso wenig halte sie davon, dass das Saarland seine Außengastronomie öffne. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) scherte am Wochenende aus und lockerte die eigentlich vorgesehenen Kontaktsperren für die Corona-Hotspots mit mehr als 100 Fälle auf 100 000 Einwohner. NRWMinisterpräsident Armin Laschet, zugleich CDU-Chef, wollte die Kritik nicht auf sich sitzen lassen. „Nordrhein-Westfalen hat die Notbremse flächendeckend verpflichtend für alle Landkreise umgesetzt“, sagte er. Darüber hinaus sei eine Terminvereinbarung in Geschäften mit einem Corona-Test möglich.
Wie will die Kanzlerin die dritte Infektionswelle brechen?
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Durch eine Kombination aus Ausgangsbeschränkungen in Regionen mit besonders hohen Infiziertenzahlen, verpflichtenden Tests, mehr Homeoffice und weiteren Kontaktbeschränkungen. Auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) sprach sich für nächtliche Ausgangsbeschränkungen aus. „Ich hätte gar nichts dagegen zu sagen: Ab 20 Uhr ist wirklich Ruhe“, sagte er der „Bild“-Zeitung.
Welche Optionen hat die Kanzlerin, um solche Maßnahmen durchzusetzen?
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Merkel nannte drei Möglichkeiten:
Ab sofort müssen im Land Berlin die Arbeitgeber allen Mitarbeitern mindestens zweimal pro Woche einen kostenlosen Schnell- oder Selbsttest unter Aufsicht anbieten. Die Arbeitnehmer sind allerdings nicht verpflichtet, dieses Angebot anzunehmen. Ausnahme: Eine Testpflicht gibt es für Verkaufspersonal in Einzelhandel und Gastronomie sowie für Mitarbeiter in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen mit direktem Kundenkontakt. Außerdem darf in privaten und öffentlichen Büros maximal die Hälfte der Arbeitsplätze genutzt werden. Damit ist Berlin das zweite Bundesland mit einer Pflicht. In
Sachsen ist gibt es dies bereits seit dem 22. März. Die Wirtschaft wehrt sich heftig gegen solche Vorschriften, über die auch andere Bundesländer nachdenken. Mit dem ständigen Androhen einer gesetzlichen Regelung werde das freiwillige Engagement nicht anerkannt, kritisierte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. „Ein Testgesetz schafft nicht mehr Schutz, sondern mehr Bürokratie, mehr Kosten, weniger Eigeninitative und einen Haufen ungeklärter rechtlicher und organisatorischer Fragen“, sagte Dulger. Er verwies auf die Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Vor drei Wochen hatten ihre Spitzenverbände an die Unternehmen appelliert, den Beschäftigten Selbst- und Schnelltests anzubieten. Sie hätten ihre Testanstrengungen stark ausgeweitet, betonte Dulger. Auch für Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer zeigt „die stetig steigende Zahl von mitmachenden Betrieben, dass es keine gesetzliche Verpflichtung zu Testungen braucht“. Er sieht vielmehr die Politik gefordert, für ausreichende Mengen von Selbst- und Schnelltests zu vertretbaren Preisen zu sorgen. Wie viele Unternehmen tatsächlich mitmachen, ist unklar. Vor zwei Wochen ergab eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), dass 19 Prozent aller Betriebe ihre Belegschaft testen und 28 Prozent in Kürze damit beginnen wollen. Für viele stelle sich die
Frage gar nicht, weil sie entweder ausschließlich im Homeoffice arbeiten oder sich im Lockdown befinden. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) fordert, dass sich mindestens zwei Drittel der Firmen beteiligen. Liebend gerne würde die Wirtschaft dagegen ihre Betriebsärzte beim Impfen einsetzen. Das Konzept liege vor, betonte Industriepräsident Siegfried Russwurm im „Tagesspiegel“. Allein acht der zehn Millionen Industriebeschäftigten könnten so geimpft werden. (dik)
Die erste Variante wäre die Einberufung einer weiteren Ministerpräsidentenkonferenz – wobei ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag mitteilte, dass vor Ostern ein solches Treffen nicht geplant sei. Eine Alternative wäre der Weg über ein Bundesgesetz, das im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig wäre. Möglich wäre auch eine Änderung der im November 2020 beschlossenen Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Der Bundesrat müsste dem mit Mehrheit zustimmen. Merkel kündigte an, den Bundesrat „einbeziehen“zu wollen. Sprich: Einfach anordnen kann Merkel wenig im Bereich der Pandemiebekämpfung. Sie braucht mindestens die Zustimmung der Bundestagsmehrheit.
Müssen die Bundesländer Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung immer zustimmen?
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Laut dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers ist dem nicht so. „Der Bund kann die Bekämpfung der Pandemie gesetzgeberisch abschließend regeln“, sagte der Professor für Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität Spiegel Online. Auch ein vollständiger Lockdown lasse sich per Bundesgesetz regeln. Die Grundlage dafür sei Artikel 74, Absatz 1, Nummer 19 des Grundgesetzes. Der Bund besitze die Gesetzgebungskompetenz für alle „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“, heiße es dort. Der Bund habe die Möglichkeit, Maßnahmen etwa über ein eigenes Gesetz zu regeln. „Alternativ dazu könnte man auch im Infektionsschutzgesetz eine Rechtsgrundlage schaffen, die die Bundesregierung oder den Bundesgesundheitsminister dazu ermächtigt, den Lockdown per Rechtsverordnung bundeseinheitlich anzuordnen“, betonte Möllers. Probleme sehe er allenfalls bei Entscheidungen über Öffnungen und Schließungen von Schulen, da Bildungspolitik Ländersache sei. Auch der Münchner Staatsrechtler Christoph Degenhart sagt, dass Pandemie-Maßnahmen ohne die Länder in Form von Bundesgesetzen beschlossen werden könnten. Aber auch in solchen Fällen müsse die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten zustimmen, allein anordnen könne Merkel nicht.