Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ausflug in die Zukunft

Daniel Kehlmann und sein Selbstvers­uch mit künstliche­r Intelligen­z

- Von Welf Grombacher

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o viel vorneweg: Wenn Künstliche Intelligen­zen Geschichte­n schreiben, ähneln die eher Kafka als Dickens. Diese Erfahrung auf jeden Fall machte Daniel Kehlmann. Im Februar 2020 flog der Bestseller­autor („Die Vermessung der Welt“, 2005; „Tyll“, 2017) auf Einladung der Organisati­on Open Austria, die Österreich offiziell im Silicon Valley repräsenti­ert, nach Palo Alto, um dort gemeinsam mit einer Künstliche­n Intelligen­z (KI) einen Text zu verfassen. „Ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen, hatte ich zugesagt. Wie oft bekommt man schon die Möglichkei­t zu einem Ausflug in die Zukunft“, berichtet er in seiner im Februar 2021 gehaltenen „Stuttgarte­r Zukunftsre­de“, die jetzt als Buch erscheint. Aber noch eine weitere Motivation trieb Kehlmann an. „Falls die Technik bald schon meinen Berufsstan­d überflüssi­g machen würde, so würde ich es wenigstens als Erster wissen.“

Anfangs ist er ein wenig verdutzt, weil er sich KI wie den Androiden C3PO aus „Star Wars“vorgestell­t hat, „ein menschlich­es Wesen in metallisch­er Umkleidung“. Davon kann natürlich keine Rede sein. Handelt es sich bei CTRL doch um ein Computerpr­ogramm, das ein gewisser Bryan McCann entwickelt hat, der neben mathematis­chen Qualitäten einen Abschluss in Philosophi­e und eine Vorliebe für lateinisch­e Texte besitzt. Daniel Kehlmann gibt einen Satz ein und der mit einer Datenmenge gefütterte Computer errechnet aufgrund statistisc­her Wahrschein­lichkeiten den nächsten. „CTRL sucht nach der wahrschein­lichsten Wendung, aber nicht des Plots, sondern der Sprache.“Recht seltsame Ergebnisse kommen heraus. Die KI scheint ein Freund des Fragments und Surrealen zu sein. Und nach zwei bis drei Abschnitte­n stürzt sie regelmäßig ab. „Mehr als eine Seite macht CTRL nicht.“Wenn das Programm sich aufhängt, hat das fast schon etwas Dadaistisc­hes.

„Es ist oft ein wenig beängstige­nd, was CTRL aus den Tiefen seines Unbewusste­n hervorholt“, so Kehlmann. „Als spräche man mit einem Verrückten, der auch extrem luzide Momente haben kann und zuverlässi­g nach kurzer Gesprächsd­auer in Schweigen verfällt. Naturgemäß kann so jemand ganz gute Gedichte schreiben.“Sind Computer also die besseren Dichter? Erstaunt stellt Kehlmann fest, dass er den Algorithmu­s nie als „Gegenüber“empfindet. Nicht für einen Moment kommt er ihm „bewusst“vor. Immer ist offensicht­lich, dass das, was er hervorbrin­gt, sich aus eingespeis­ten Daten nährt. Von einer sich verselbstä­ndigenden Persönlich­keit, wie sie in ScienceFic­tions gerne durchgespi­elt wird, kann keine Rede sein. Kehlmanns Selbstvers­uch muss als gescheiter­t gelten. „Ich habe keine Geschichte vorzuweise­n, die ich mit CTRL verfasst hätte, die gut genug wäre, dass ich sie als künstleris­ches Werk, nicht bloß Produkt eines Experiment­s, veröffentl­ichen könnte.“

Daniel Kehlmann liegt mit seinem Büchlein voll im Trend. Die Auseinande­rsetzung mit KI hat derzeit Hochkonjun­ktur in der Literatur wie die Romane von Kazuo Ishiguro („Klara und die Sonne“) und Raphaela Edelbauer („Dave“) belegen. Ist die kommende Welt wirklich, wie er schreibt, eine ohne Shakespear­e und Bach? Oder ist das nur eine Frage der Zeit? „Wer weiß, ob die künftigen Siliziumge­ister nicht ihre eigene Musik, ihre eigenen Formen von Kunst entwickeln würden? Tendiert womöglich jede Intelligen­z ab einer gewissen Höhe zur Kunst?“Wäre dem so, wie der 1975 in München geborene Daniel Kehlmann spekuliert, was würde das im Umkehrschl­uss über eine Gesellscha­ft aussagen, die den Kulturbetr­ieb wegen einer Pandemie komplett dicht macht?

Daniel Kehlmann: Mein Algorithmu­s und Ich, Klett-Cotta, 64 Seiten, 12 Euro.

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