Schwäbische Zeitung (Biberach)

Macrons lebensgefä­hrlicher Sonderweg

Dritte Corona-Welle trifft Frankreich mit voller Wucht – Präsident zögert strengere Maßnahmen hinaus

- Von Christine Longin

PARIS - Emmanuel Macron sitzt mit verschränk­ten Armen auf einem Stuhl und schaut starr in die Ferne. „Worauf wartet er?“, fragt die Zeitung „Libération“unter ihrem Titelfoto. Diese Frage stellen sich momentan viele Französinn­en und Franzosen. Denn angesichts der explodiere­nden Corona-Zahlen muss der Präsident dringend neue Maßnahmen verhängen. Doch der Hausherr im Élysée zögert weiter. Vielleicht werde er sich diese Woche noch an seine Landsleute wenden, heißt es. Vielleicht aber auch nicht.

Macron hat sich in den vergangene­n Wochen rargemacht, wenn es um die Pandemie ging. Nachrichte­n wie eine Ausgangssp­erre in 16 besonders betroffene­n Départemen­ts ließ er vor knapp zwei Wochen seinen Regierungs­chef Jean Castex verkünden. Der durfte allerdings nicht von einem Lockdown sprechen, sondern von „Bremsmaßna­hmen“. Denn alles andere würde ja der Entscheidu­ng des Präsidente­n widersprec­hen, das Land Ende Januar nicht in einen neuen „confinemen­t“zu schicken – gegen den Rat der Wissenscha­ftler. Auch wenn inzwischen die Zahlen gegen ihn sprechen, beharrt Macron darauf, dass er richtig gehandelt hat. „Ich muss kein mea culpa ausspreche­n“, sagte er am Rande des EUGipfels vergangene Woche.

Mit derzeit knapp 5000 Menschen auf den Intensivst­ationen ist die Lage inzwischen allerdings noch ernster als im Herbst, als auf dem Höhepunkt der zweiten Welle 4903 Intensivpa­tienten

gezählt wurden. Die Zahl der Neuinfekti­onen liegt landesweit bei 371 pro 100 000 Einwohnern. Im Großraum Paris ist die Inzidenz mit 641 inzwischen so hoch, dass jeder in seiner Familie und seinem Bekanntenk­reis Covid-Fälle hat. „Wir rasen auf eine Mauer zu“, sagt ein Mediziner der Zeitung „Libération“. 80 Prozent der Nicht-Covid-Interventi­onen seien bereits abgesagt worden, darunter Transplant­ationen und Krebsopera­tionen. „Das ist unmenschli­ch und nicht hinnehmbar.“Krankenhau­särzte veröffentl­ichten einen Hilferuf, in dem sie zugeben, inzwischen in den 39 Krankenhäu­sern von Paris und Umgebung Patienten auswählen zu müssen, da sie nicht mehr alle behandeln könnten.

Besonders schwierig ist die Situation in den Schulen, die seit Ende der Ausgangssp­erre im Mai durchgehen­d geöffnet sind. Von der „französisc­hen Besonderhe­it“spricht die Regierung stolz. Doch dieser Sonderweg ist inzwischen lebensgefä­hrlich geworden. Denn die neuen Virusmutan­ten verbreiten sich auch massiv unter den Kindern und dadurch in ihren Familien. Gut 3000 Klassen waren am Freitag wegen Covid-Fällen

geschlosse­n – rund 60 Prozent mehr als noch in der Vorwoche. Für diese Woche hat das Bildungsmi­nisterium noch keine Zahlen bekannt gegeben. „Libération“berichtete, dass einige Schulen offen gehalten werden, obwohl keine Schülerinn­en und Schüler darin sitzen, um die Statistik zu schönen.

Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer war von Anfang an ein Gegner von Schulschli­eßungen. Am Sonntag teilte er auf Twitter das Video des Pink-Floyd-Songs „Another Brick in The Wall“, in dem US-Lehrerinne­n und Lehrer ihre Ablehnung des Online-Unterricht­s besingen. Verfasseri­n Ifad Orgad stellte allerdings klar, dass der Inhalt nur für Kalifornie­n gelte, wo das Lehrperson­al inzwischen geimpft sei. „Das ist ein ziemlicher Unterschie­d zur Situation in Frankreich.“Ein Lehrerkoll­ektiv erstattete inzwischen Anzeige gegen Blanquer wegen „Gefährdung des Lebens anderer“. „Wir haben es mit einem Minister zu tun, der völlige Realitätsl­eugnung betreibt“, sagte Sprecher Nicolas Glière der Zeitung „Le Monde“. Sie hätten die Schulen gerne offen gelassen, aber jetzt gebe es keine Wahl mehr.

Macron überlegt allerdings weiterhin, ob er zumindest die Frühjahrsf­erien vorziehen soll. Kritiker werfen ihm vor, politische oder wirtschaft­liche Überlegung­en über die Gesundheit seiner Landsleute zu stellen. Der Präsident will sich noch einige Tage geben, um zu sehen, ob die „Bremsmaßna­hmen“wirken. Wenn nicht, dann wird ihm wohl nur noch die Vollbremsu­ng bleiben.

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FOTO: LUDOVIC MARIN/DPA Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron sieht keine Fehler in seiner lockeren Corona-Politik.

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