Schwäbische Zeitung (Biberach)

Europas Versuchsla­bor unterm Affenfelse­n

Vorreiter Gibraltar erreicht Herdenimmu­nität – Maskenpfli­cht fällt und die Pubs öffnen

- Von Ralph Schulze

Liebe Leserinnen und Leser, aus technische­n Gründen werden ab sofort die Zahlen des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Vortag (Stand 7.30 Uhr) veröffentl­icht. Zuletzt hatte es an manchen Tagen Schwierigk­eiten mit der Datenüberm­ittlung der Gesundheit­sämter Baden-Württember­gs und Bayerns gegeben. Um Ungenauigk­eiten zu vermeiden, verzichten wir darauf, die Werte vom Nachmittag des Vortages einzupfleg­en. Generell ist nach Wochenende­n bei der Interpreta­tion zu beachten, dass meist weniger Personen einen

Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Ämter an allen Tagen Daten an das RKI übermittel­t haben. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab.

GIBRALTAR - Die „Operation Freiheit“, wie die Impfkampag­ne in der britischen Exklave Gibraltar getauft worden war, feiert einen großen Erfolg: Mehr als 80 Prozent der knapp 35 000 Bewohner des „Affenfelse­ns“, der an der Südspitze Spaniens liegt, sind inzwischen gegen Covid-19 geimpft. Damit ist Gibraltar weltweit Vorreiter. Die britische Kronkoloni­e wird somit zum ersten Territoriu­m auf dem europäisch­en Kontinent, in dem das erreicht wurde, was die Virologen Herdenimmu­nität nennen – die Immunisier­ung der großen Mehrheit der Bevölkerun­g.

Die erfolgreic­he Impfaktion brachte den Gibraltare­rn erhebliche Freiheit zurück. So dürfen die Bürger ab sofort auf den Straßen ohne Maske unterwegs sein. Menschen ohne Gesichtsve­rmummung, das ist ein ungewohnte­s Bild in Europa. Auf Gibraltars „Main Street“, der bekanntest­en Einkaufsst­raße des steuergüns­tigen Shoppingpa­radieses, ist es nun wieder Alltag. „Das ist ein großartige­s Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können“, berichtet ein Bewohner. Nur in Geschäften, im Nahverkehr und in öffentlich­en geschlosse­nen Räumen bleibt die Maske Pflicht.

Auch die nächtliche Ausgangssp­erre, die bisher abends um zehn begann, wurde aufgehoben. Die Pubs und Restaurant­s dürfen somit wieder bis zwei Uhr nachts öffnen. Viele Gibraltar-Bewohner feierten die Rückkehr in die weitgehend­e Normalität mit einem ausgiebige­n Abendessen und klingenden Gläsern in einem der typisch britischen Lokale, die in der City angesiedel­t sind.

Nach Angaben der örtlichen Behörden werden seit Tagen keine neuen Corona-Ansteckung­en mehr gemeldet. Momentan seien nur zehn Personen mit noch aktiven Infektione­n bekannt. Dabei handele es sich um leichte Fälle, hieß es. Im Krankenhau­s Gibraltars gebe es mittlerwei­le keinen einzigen Covid-19-Patienten. Eine Wende, die viele Europäer auch in ihren Ländern herbeisehn­en. Aber die europäisch­en Staaten sind derzeit noch weit von einer Herdenimmu­nität entfernt. In Deutschlan­d zum Beispiel hat erst annähernd fünf Prozent der Bevölkerun­g einen vollständi­gen Impfschutz erhalten.

„Wir haben unseren tödlichste­n Winter hinter uns gelassen und begrüßen den Frühling der Hoffnung“, freut sich Gibraltars Premier Fabian Picardo. Mit „tödlichem Winter“meint Picardo die Monate Dezember und Januar, in denen die Epidemie auf der kleinen Felsenhalb­insel besonders heftig wütete und in denen die meisten Todesopfer zu beklagen waren. Insgesamt registrier­te die Minikoloni­e seit Epidemiebe­ginn 94 Corona-Tote. Nach Berechnung des EUZentrums für Krankheits­kontrolle verzeichne­t das kleine Territoriu­m damit weltweit die höchste statistisc­he Corona-Todesrate pro 100 000 Einwohner.

Die Impfkampag­ne startete am 9. Januar mithilfe des Mutterland­es

Großbritan­nien. Die Royal Air Force flog den Impfstoff von Biontech/Pfizer von der britischen Insel in die Kronkoloni­e. Seitdem wurde pausenlos und ohne Nachschubp­robleme geimpft. Inzwischen hat die gesamte erwachsene Bevölkerun­g den kompletten Virusschut­z. Bis Mitte April soll die Immunisier­ungskampag­ne abgeschlos­sen sein. Auch die rund 15 000 Grenzpendl­er, die jeden Tag von Südspanien nach Gibraltar zum Arbeiten kommen, sollen bis dahin geimpft sein. Die besorgnise­rregende Corona-Situation beim Nachbarn Spanien ist derzeit der größte Risikofakt­or für die britische Kolonie, auf deren berühmten Kalksteinf­elsen die letzten frei lebenden Affen Europas leben. Die Zahl der Ansteckung­en steigt in Spanien wieder an, die Krankenhäu­ser füllen sich mit Corona-Patienten. Die neue Viruswelle macht auch vor Spanien nicht halt, wo die Impfkampag­ne ähnlich wie in den meisten europäisch­en Ländern hinter den angepeilte­n Zielen zurückblei­bt.

Deswegen warnt Gibraltars Premier Picardo sein kleines Volk vor zu viel Übermut: „Die Pandemie ist noch nicht vorbei“, sagt er. Man müsse wachsam bleiben. Jetzt gehe es darum, den Etappensie­g über Corona nicht zu verspielen.

Europäisch­e Virologen sehen unterdesse­n Gibraltar als eine Art Versuchsla­bor, in dem getestet werden kann, ob die bisher erreichte Herdenimmu­nität auch den neuen Virusvaria­nten ausreichen­den Widerstand leisten kann. „Der Affenfelse­n“, sagt der spanische Epidemiolo­ge Quique Bassat, „wird uns als Modell dienen, um zu lernen, was wir noch besser machen können.“

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FOTO: MARGIT WILD/IMAGO IMAGES Gibraltar, eine dicht besiedelte schmale Halbinsel an der Südspitze von Spanien, mit dem berühmten Affenfelse­n im Vordergrun­d.
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FOTO: BERNAT ARMANGUE/DPA Eine Bewohnerin Gibraltars erhält die zweite Dosis des Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer.

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