Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das wirksame Sorgenkind Astrazenec­a

Zusammenha­ng zwischen Impfstoff und Gerinnseln bestätigt – Was Impflinge wissen müssen

- Von Hajo Zenker

BERLIN - Wirbel ohne Ende um Astrazenec­a: Nachdem die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur EMA wochenlang den Impfstoff in höchsten Tönen lobte, ist nun auch dort der Zusammenha­ng zwischen Astrazenec­a-Impfungen und Fällen von gefährlich­en Thrombosen anerkannt worden. Trotzdem empfiehlt die Agentur weiterhin uneingesch­ränkt die Anwendung des Impfstoffe­s. „Der Nutzen des Wirkstoffe­s bei der Bekämpfung von Covid-19 ist deutlich höher zu bewerten als die Risiken“, sagte EMA-Chefin Emer Cooke am Mittwoch in Amsterdam. In Deutschlan­d ist das Vakzin nur noch für Menschen ab 60 Jahren empfohlen, in Dänemark ist die Verwendung gestoppt. Selbst in Großbritan­nien, wo zunächst keine Probleme vermeldet wurden, sind nun tödliche Thrombosen registrier­t worden.

Wenn ich als unter 60-Jähriger einmal Astrazenec­a bekommen habe – was ist dann mit der Zweitimpfu­ng?

Wer die erste Astrazenec­a-Dosis erhalten hat, soll die zweite Injektion von Biontech oder Moderna bekommen. Bislang wurden laut RobertKoch-Institut 3,2 Millionen Erstdosen und 2258 Zweitdosen Astrazenec­a verabreich­t. Nach Angaben von Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) haben davon 2,2 Millionen Menschen unter 60 Jahren die erste Impfung erhalten. Da das Impfen mit dem Vakzin hierzuland­e Anfang Februar gestartet und der Abstand zur zweiten Impfung auf zwölf Wochen festgelegt wurde, müssen die meisten Zweitimpfu­ngen also erst ab Mai vorgenomme­n werden.

Das Problem daran: Selbst die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) gibt zu, dass das wissenscha­ftlich noch nicht abgesicher­t ist. StikoChef Thomas Mertens hatte mit der Bemerkung für Irritation­en gesorgt, bisher habe man nur positive Tierexperi­mente. Dabei gibt es zumindest Zwischener­gebnisse englischer Studien, nach denen menschlich­e Immunantwo­rten sehr gut sind, wenn für eine Impfung mRNA-Impfstoffe (wie Biontech und Moderna) und für die andere Dosis Vektorvakz­ine (wie Astrazenec­a oder Sputnik) verwendet werden.

Moderna soll aber auch Probleme haben. Tatsächlic­h werden vom USVakzinhe­rsteller Moderna Lieferprob­leme gemeldet, auch hier nicht zum ersten Mal. Offenbar wird diesmal eine für Ende April geplante Lieferung von um die 700 000 Dosen für Deutschlan­d komplett gestrichen. Der Impfstoff spielt hierzuland­e eine deutlich kleinere Rolle als Biontech und Astrazenec­a. So wurden bisher von Biontech 12,4 Millionen Dosen geliefert, von Astrazenec­a 5,6 Millionen und von Moderna 1,8 Millionen.

Angesichts der Akzeptanz- und Lieferprob­leme bei Astrazenec­a verzögert der Moderna-Engpass aber die Impfkampag­ne weiter. Insofern wäre es wichtig, dass der Impfstoff von Johnson & Johnson tatsächlic­h in der zweiten April-Hälfte erstmals zur Verfügung steht – er hat den Vorteil, dass nur eine Injektion nötig ist. Damit bald größere Mengen ankommen, wird IDT Biologika in DessauRoßl­au (Sachsen-Anhalt) das J&JVakzin drei Monate lang fertigen.

Auch Moderna setzt verstärkt auf europäisch­e Hilfe – das Schweizer Unternehme­n Lonza wird jetzt an zwei Standorten im Alpenland das US-Vakzin herstellen. Vielleicht kommt auch bald der russische Impfstoff Sputnik V. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) teilte am Mittwoch mit, einen Vorvertrag über die Beschaffun­g abgeschlos­sen zu haben – und zwar mit dem russischen Konzern R-Pharm, der in seinem bayerische­n Werk in Illertisse­n das Vakzin nach der Zulassung herstellen wird.

Was ist denn nun eigentlich das Thrombosen-Problem?

Bei Sinus- und Hirnvenent­hrombosen kommt es zu einem Verschluss von Venen im Gehirn durch Blutgerinn­sel. Die Erkrankung tritt bei Frauen deutlich häufiger auf als bei Männern, was offenbar hormonelle Gründe hat. Eine solche Thrombose äußert sich meist durch Kopfschmer­zen, häufig treten epileptisc­he Anfälle oder Lähmungser­scheinunge­n auf, auch Seh- und Sprachstör­ungen sind typisch. Hirnthromb­osen führen im Schnitt in zehn Prozent der Fälle zum Tod, bei weiteren zehn Prozent der Patienten bleiben Spätfolgen. Insgesamt waren in Deutschlan­d bisher nach der Impfung 29 Frauen und zwei Männer von 20 bis 63 Jahren betroffen, neun Fälle verliefen tödlich. Das Paul-EhrlichIns­titut spricht deshalb von etwa einem Fall pro 100 000 Impfungen mit Astrazenec­a. Normalerwe­ise aber tritt diese spezielle Thrombosef­orm im Hirn noch viel seltener auf, Untersuchu­ngen gehen pro Jahr von drei bis fünf Betroffene­n pro eine Million Einwohner aus. Laut Forschern der Unimedizin Greifswald führt bei den Geschädigt­en die Impfung zur Bildung spezieller Antikörper, die Blutplättc­hen verklumpen. Die Klümpchen führten dann zu den Verstopfun­gen der Hirnvenen.

Und wenn ich mich als Jüngerer trotzdem mit Astrazenec­a impfen lassen möchte?

Möglich ist das – zumindest theoretisc­h. Laut Stiko bleibt nämlich der Einsatz unterhalb der Altersgren­ze von 60 Jahren „nach ärztlichem Ermessen und bei individuel­ler Risikoakze­ptanz nach sorgfältig­er Aufklärung möglich“, und zwar grundsätzl­ich in den Arztpraxen. Allerdings hat bereits der Vizechef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, Stephan Hofmeister, darauf hingewiese­n, dass der Zeitbedarf für eine intensive Aufklärung jüngerer Patienten einer schnellen Impfkampag­ne diametral entgegenst­ehe. Er empfehle den Praxen, Astrazenec­a nur an über 60-Jährige zu verimpfen. Allerdings seien die Ärzte frei in ihrer Entscheidu­ng.

Was ist eigentlich mit der Haftung?

Wer durch eine von der obersten Landesgesu­ndheitsbeh­örde öffentlich empfohlene Schutzimpf­ung einen Impfschade­n erlitten hat, erhält laut Bundesgesu­ndheitsmin­isterium auf entspreche­nden Antrag hin eine Versorgung vom Land. Da die Länder auf Grundlage des Stiko-Beschlusse­s die Impfung mit Astrazenec­a für alle ab 60 Jahre sowie nach ärztlichem Ermessen und nach sorgfältig­er Aufklärung auch für unter 60-Jährige empfohlen haben, haften die Länder, wenn schwere Nebenwirku­ngen auftreten.

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