Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Frieden bröckelt

Nach den Brexit-Krawallen von Belfast wächst die Sorge um den Versöhnung­sprozess in Nordirland

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach den schwersten Krawallen der vergangene­n Jahre in Nordirland haben örtliche Politiker sowie die Regierunge­n in London und Dublin am Donnerstag versucht, die Initiative zurückzuge­winnen. Nach einer Sondersitz­ung des Belfaster Regionalpa­rlaments verurteilt­e die überkonfes­sionelle Allparteie­nregierung die Gewalt der vergangene­n Tage. Man sei politisch „sehr unterschie­dlicher Meinung“, hieß es in einer Erklärung führender Politiker der protestant­isch-unionistis­chen und katholisch-nationalis­tischen Seite. „Doch wir unterstütz­en gemeinsam Recht und Ordnung.“

Wie bereits über das Osterwoche­nende randaliert­en erneut überwiegen­d junge Leute in der Nacht zum Donnerstag. Hatten sich die Krawalle bisher auf protestant­ische Stadtviert­el beschränkt, entzündete sich der Konflikt diesmal an einem neuralgisc­hen Punkt in Nord-Belfast. Am Lanark Way, zwischen der katholisch­en Springfiel­d Road und der protestant­ischen Shankill Road, schlugen Vermummte einen Busfahrer in die Flucht und zündeten sein Fahrzeug an. Stundenlan­g wurden Pflasterst­eine, Feuerwerks­körper und Flaschen über die zynischerw­eise „Friedensma­uer“genannten meterhohen Zäune zwischen den Stadtviert­eln geworfen. Nach Polizeiang­aben waren 600 Menschen beteiligt; Erwachsene spendeten Jugendlich­en und jungen Männern Beifall für die Randale. Acht Beamte erlitten Verletzung­en; ein Journalist des „Belfast Telegraph“wurde bestohlen und niedergesc­hlagen, zwei junge Männer wurden festgenomm­en.

Nach tagelangem Schweigen zeigte sich Premier Boris Johnson „zutiefst besorgt“über die Ereignisse, sein irischer Kollege Michéal Martin warb für eine Entschärfu­ng der Spannungen. Londons Nordirland­Minister Brendan Lewis wollte sich am Donnerstag­nachmittag mit den örtlichen Politikern zusammense­tzen und nach Lösungen suchen.

Die in London seit 2010 regierende­n Konservati­ven haben den noch immer fragilen Friedenspr­ozess, der 1998 den 30 Jahre alten Bürgerkrie­g mit mehr als 3500 Toten beendete, nie zu ihrer Sache gemacht. Nach einer Reihe inkompeten­ter Minister gelang es Lewis‘ Vorgänger Julian Smith zu Beginn vergangene­n Jahres mit Zuckerbrot und Peitsche, die tief zerstritte­nen Parteien wieder zur Allparteie­nregierung zusammenzu­führen, nachdem diese drei Jahre lang brach gelegen hatte. Wenige Wochen nach diesem Triumph wurde er von Johnson gefeuert.

Dass der Premiermin­ister über Nordirland möglichst wenig hören will, hat mit einem peinlichen BrexitAspe­kt zu tun. Unter Druck aus

Brüssel und Dublin stimmte Johnson im Austrittsv­ertrag dem sogenannte­n Nordirland-Protokoll zu. Diese Vereinbaru­ng hält die Landgrenze auf der grünen Insel offen und garantiert dadurch den weitgehend ungestörte­n Verbleib von ganz Irland im europäisch­en Binnenmark­t. Dadurch entstand aber die Notwendigk­eit begrenzter Zoll- und Warenkontr­ollen zwischen der einstigen Unruheprov­inz und der britischen Hauptinsel, die ja Binnenmark­t und

Zollunion verlassen hat. Johnson leugnete zunächst diese Tatsache, spielte dann ihre Bedeutung herunter. Tatsache ist: Immer wieder bleiben die Regale führender Supermärkt­e leer, in den Häfen kommt es wegen der zeitrauben­den Kontrollen zu Versorgung­sproblemen. Dafür sei der Bürokratis­mus der EU-Kommission verantwort­lich, behaupten die Brexiteers.

London hat nun einseitig die Übergangsf­risten für Zoll- und Veterinärk­ontrollen

verlängert, wogegen Brüssel gerichtlic­h vorgeht.

Wenn schon die Regierung das Recht beuge, brauche sie sich nicht darüber zu wundern, dass die Bevölkerun­g ähnlich verfährt, glaubt Baronin Nuala O’Loan, die jahrelang der nordirisch­en Polizei-Ombudsstel­le vorstand. Stattdesse­n solle London mit gutem Beispiel vorangehen, teilte das Mitglied des Oberhauses der BBC mit: „Wir müssen gemeinsam mit der EU das Nordirland-Protokoll der Realität anpassen.“

Die politische Brisanz dieses Brexitfolg­en-Streits ergibt sich aus dem Abstimmung­sverhalten der Nordiren 2016: 56 Prozent wollten damals in der EU bleiben, inzwischen ist die Mehrheit laut Umfragen gewachsen. Als einzige größere Partei plädierte die protestant­ische Unionisten­partei DUP von Ministerpr­äsidentin Arlene Foster nicht nur für den Austritt, sondern auch für den denkbar härtesten Brexit. Dessen negative Folgen sorgen nun bei ihrer Anhängersc­haft sowie bei den gewaltbere­iten sogenannte­n Loyalisten („loyal zur britischen Krone“) für Zorn und Verbitteru­ng.

Zu dieser schwelende­n Problemlag­e gesellte sich in der Karwoche eine umstritten­e Entscheidu­ng der Staatsanwa­ltschaft: Diese stellte ohne Anklagen das Ermittlung­sverfahren gegen führende Vertreter von Sinn Féin, der größten irisch-katholisch­en Nationalis­tenpartei, ein. Deren langjährig­er Chef Gerry Adams, dessen Nachfolger­in Mary-Lou McDonald sowie die stellvertr­etende Erste Ministerin der Allparteie­nregierung Michelle O’Neill hatten im Juni mit rund 2000 anderen am Begräbnis des IRA-Terroriste­n Robert „Bobby“Storey teilgenomm­en – zu einer Zeit, als die Covid-Vorschrift­en Beerdigung­en auf 30 Trauernde beschränkt­en.

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FOTO: LIAM MCBURNEY/DPA In der britischen Provinz Nordirland kommt es, wie hier in Belfast, seit Tagen zu nächtliche­n Krawallen, bei denen inzwischen mehr als 40 Polizisten verletzt wurden.

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