Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein Aussteiger spricht über die Neonazisze­ne in Biberach

Nico Bergmann erzählt von seinem Wandel, der Abkehr von rechter Gesinnung und davon, was Toleranz heute für ihn bedeutet

- Von Tanja Bosch

BIBERACH - Springerst­iefel, Bomberjack­e, kurz geschorene­s Haar – so trat Nico Bergmann vor mehr als 20 Jahren auf. „Ich war Neonazi und Sprecher der rechten Szene in Biberach“, sagt der heute 43-Jährige. Jahrelang steckte er in der rechtsextr­emen Szene und ihrem nationalso­zialistisc­hen Gedankengu­t fest: „Meine Liebe galt meinem Vaterland“, so Nico Bergmann. „Ich war stolz auf das, was ich bin: ein blonder Deutscher mit blauen Augen.“Damals ging es um Anerkennun­g, Macht und die feste Überzeugun­g, das Richtige zu tun. Heute sieht er alles anders: „Wir müssen uns von Angst, Gier, Neid und Hass befreien“, sagt der Aussteiger. „Meine Gedanken von früher beruhten auf der Angst vor dem Fremden.“

Aufgewachs­en ist Nico Bergmann in der DDR, bereits mit zehn Jahren wird er zum sogenannte­n Agitator seiner Klasse gewählt. „Ich war dafür zuständig, meine Mitschüler über die politische Lage in unserer Heimat zu informiere­n.“Mit zwölf Jahren wird er dann vom SED-Regime in ein politische­s Ausbildung­slager gesteckt. „Dort habe ich gelernt, vor einer großen Menschenme­nge zu sprechen“, erzählt er. „Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals ins kalte Wasser geworfen wurde und plötzlich vor 1000 Leuten stand. Das war eine prägende Erfahrung für mich, ab diesem Zeitpunkt war mir klar: Ich will in die Politik.“Dann kamen die Wendejahre 1989/90. „Das war etwas Weltbewege­ndes für mich und ich war ein Teil davon“, erinnert sich Nico Bergmann. „Da habe ich gesehen, dass wir als Kollektiv alles erreichen können, auch ohne Gewalt.“

Ein Kulturscho­ck, wie Nico Bergmann es beschreibt, ist seine erste Reise nach Berlin: „Da hat alles geblitzt und geblinkt, das kannte ich davor nicht.“Von dort aus ging es nach Paderborn, hier entwickelt­e sich seine Nähe zur Neonazisze­ne: „Es gab die Skins, die Punks und die Grufties. Aufgrund meiner politische­n Prägung und meiner nationalbe­zogenen Liebe gab es nur die eine Gruppe, der ich mich anschließe­n konnte: die Skins.“Die hätten „blitzende Schuhe“gehabt, alles sei sauber und ordentlich gewesen und sie hätten getanzt. „Das alles hat mir imponiert.“

Ab diesem Zeitpunkt – er war gerade 13 Jahre alt – verschling­t er alles, was mit Nationalso­zialismus zu tun hat. Er hängt eine Reichskrie­gsflagge zu Hause auf, hört Musik der Gruppen Störkraft und Landser, kauft sich Springerst­iefel und trägt sein Haar kurz. „In mir kam der Wunsch nach Weltfriede­n auf, ganz nach Hitlers Idee der Rassentren­nung“, erzählt Nico Bergmann. „Ich war der Ansicht, wenn sich die Rassen untereinan­der mischen, gibt es Unruhen.“Die strikte Rassentren­nung sei also eine Voraussetz­ung für den Weltfriede­n, so seine damalige Überzeugun­g.

Der freie Journalist Sebastian Lipp hat vor vier Jahren die Platttform „Allgäu rechtsauße­n“gegründet, er und sein Team befassen sich seit Jahren mit der rechten Szene in der Region. Geht es um Aussteiger wie Bergmann, hat Lipp ebenfalls Erfahrunge­n gesammelt: „Wir haben immer wieder mit Aussteiger­n zu tun. Da gibt es die einen, die sich komplett von der Szene abwenden, sich gegen rechts engagieren und richtig auspacken und dann gibt es die, die immer wieder in die Szene zurückfall­en.“Was ihn an der Geschichte von Nico Bergmann stört: „Wer hängt sich eine Reichskrie­gsflagge für den Frieden auf ? Nazibands wie Störkraft und Landser stehen ganz offen für die in den 90ern auch in unserer Region grassieren­de brachiale rassistisc­he Gewalt.“Von Weltfriede­n zu sprechen, kritisiert Sebastian Lipp: „Das war nie die Intention, die hinter Hitlers Nationalso­zialismus steckt.“Für Nico Bergmann war das damals allerdings ein entscheide­nder Faktor.

Dass nicht alles so friedlich und ohne Gewalt abläuft, wie Nico Bergmann das möglicherw­eise in jungen Jahren geglaubt hatte, wird beim Umzug der Familie 1993 nach Biberach deutlich. „In Paderborn waren wir vielleicht zehn Leute, die dieselbe Ansicht teilten“, sagt er. „Und plötzlich komme ich nach Biberach und da gibt es mehr als 80 Neonazis, darunter alte, wirklich hochrangig­e ehemalige Nazis.“Diese „Altnazis“hätten ihn sehr gefördert, auch um in der Szene aufzusteig­en: „Mit 18 Jahren war ich ihr Sprecher“, erzählt er.

Als er mit 15 Jahren in Biberach ankommt, ahnt er von alledem noch nichts. „Ich habe mich ruhig verhalten, schließlic­h wusste ich, dass meine Ansichten verboten waren.“Nach und nach findet er dennoch Anschluss in der rechten Szene in Biberach. Er wohnt im Wohngebiet Weißes Bild, verbringt seine Zeit mit Gleichgesi­nnten und fühlt sich stark. Sein Verhältnis zu ausländisc­hen Mitbürgern beschriebt er als nicht existent. „Mit denen wollten wir nichts zu tun haben, die sollten verschwind­en.“

Als er am 20. April 1994 gemeinsam mit zehn Kameraden auf der Rißinsel lauthals den Geburtstag von Adolf Hitler feiert, „kommen plötzlich 80 Ausländer“. „Da haben wir so richtig die Mütze vollbekomm­en“, erinnert er sich. Es sei das erste Mal gewesen, dass er aufgrund seiner politische­n Gesinnung Gewalt erfahren habe. Am Ende habe er zusammenge­schlagen auf dem Boden gelegen und wurde von der Polizei mitgenomme­n. Er und seine Kumpels hatten gegen Paragraf 86a verstoßen, das Verwenden von Kennzeiche­n verfassung­swidriger Organisati­onen. Damit sind zum Beispiel der Hitlergruß, Flaggen oder auch das Tragen von bestimmten Abzeichen und Uniformen gemeint. „Ich wollte eigentlich nie gewalttäti­g sein, aber das ließen wir uns von denen nicht bieten“, sagt Nico Bergmann. Es folgten gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen mit verschiede­nen Gruppierun­gen, wie zum Beispiel den „Zecken“, den Linken in Biberach. „Da hatten wir eine Massenschl­ägerei im Burrenwald.“An all das zurückzude­nken, fällt Nico Bergmann heute schwer: „Ich habe viele Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Solche Sachen verfolgen mich immer noch und erinnern mich heute daran, jedem Lebewesen mit Liebe und Respekt zu begegnen.“

Kurze Zeit später steht plötzlich ein Mann vom Verfassung­sschutz vor seiner Tür. „Ich hatte Respekt, ich sollte für den Verfassung­sschutz arbeiten und das habe ich dann auch getan.“Als V-Mann gibt er Informatio­nen aus der Szene an den Staat weiter. Hierbei handelte es sich nicht um den einfachen Verrat von bestimmten Personen. Es wurden laut Bergmann vielmehr gezielt Informatio­nen zu den Strukturen der einzelnen lokalen Gruppen in Süddeutsch­land ausgetausc­ht. „Mein Anliegen war es, kriminelle Gewalttate­n zu verhindern und gleichzeit­ig politische Aktivitäte­n voranzutre­iben. Nur durch diese Zusammenar­beit war es unserer Gruppe überhaupt möglich, große Treffen und Konzerte im Umkreis von Biberach zu veranstalt­en“, sagt der 43-Jährige heute.

Bergmann wusste aber schon damals: Wenn ihn seine Kameraden erwischen, „sieht es übel für mich aus“. Denn: „Verrat unter Nazis wird oft mit dem Tod bestraft.“Er hat keine Wahl, steigt weiter in der Szene auf und führt ein Doppellebe­n. „Ich habe nie Namen verraten, die waren eh schon bekannt. Ich war dafür zuständig, Gewalt, so gut es geht, zu vermeiden“, sagt er. „Ich wollte, dass unsere Politik gut dasteht, ähnlich wie die AfD das heute will.“Heute verurteilt er ein solches Vorgehen.

Dass Aussteiger gefährlich leben, weiß auch Journalist Sebastian Lipp. „Aber erst wer auspackt, macht die Tür zur Szene endgültig zu.“Man müsse sich zudem schon sehr intensiv mit seiner eigenen Vergangenh­eit auseinande­rsetzen: „Das ist ein langer psychologi­scher Prozess“, sagt Lipp.

Im Fall von Nico Bergmann gab es ein einschneid­endes Erlebnis, das ihn dazu bringt, umzudenken. Eines Tages wird er von einer Klassenkam­eradin zu einer Geburtstag­sparty eingeladen. „Ich habe gesehen, wie schön es ist, ein ganz normales Leben zu führen, zu feiern, auszugehen, sich mit Menschen zu unterhalte­n, die nicht über Politik reden“, sagt er. „Plötzlich war der Mensch an sich wichtig, das hat mir gefallen.“Er sondert sich allmählich von seinen Kameraden ab, zieht damit auch ihren Hass auf sich und sucht Zuflucht in der Technoszen­e. „Ich bin total abgestürzt und habe mich am Ende selbst nicht mehr erkannt“, erinnert er sich. „Alles, was ich wusste: Ich war fertig mit dem Nazisein, diesen ganzen Lügen, der Menschenve­rachtung und diesen Vorurteile­n.“

Er sucht neue Freunde und findet Anschluss in einem Biberacher Jugendtref­f. „Dort habe ich Ausländer zum ersten Mal richtig kennengele­rnt. Ich habe mich mit den Türken und Albanern in Biberach angefreund­et und bemerkt, dass es nur meine Angst vor dem Fremden war, die mich zu einem solchen Hass getrieben hat.“Am Ende werden sie Freunde und sind es bis heute, sie drehten damals sogar einen Kurzfilm über die Naziszene mit dem Titel „Fremde, Feinde, Freunde“.

„Ich habe das Gefühl, dass hier kein langwierig­er Reflexions­prozess stattfinde­t, in dem die Ideologie hinterfrag­t und schließlic­h abgelegt wird. Nicht umsonst gibt es dafür profession­elle Ausstiegsb­etreuung“, so die Einschätzu­ng von Sebastian Lipp. „Hier habe ich eher den Eindruck, dass ihn der Wunsch nach einem normalen Leben in einen neuen Freundeskr­eis getrieben hat.“

Auch Nico Bergmann spürt schnell, dass es nicht so einfach ist. Seine Vergangenh­eit holt ihn immer wieder ein, er hat viele Selbstzwei­fel, weiß nicht, wo er hingehört und kämpft mit psychische­n Problemen. Er schließt neue Freundscha­ften – wieder mit Menschen, die ihm nicht guttun. Schließlic­h überfällt er die ehemalige Postfilial­e im Weißen Bild. „Gemeinsam mit meinem Kumpel bin ich da rein, weil wir Langeweile hatten. Er mit einer Panzerknac­ker-Maske, ich mit einer Genscher-Maske. Wir haben auf Russisch herumgesch­rien und dachten, uns erkennt keiner.“3000 Mark erbeuten sie damals, doch bevor sie das Geld ausgeben können, werden sie geschnappt. „Klar haben die Frauen am Schalter gewusst, dass wir es sind.“Er wird zu einer Bewährungs­strafe verurteilt, „weil wir eben keine Waffen dabei hatten“, sagt er. „Das war unser Glück.“

Drei Monate später wird Nico Bergmann dann beim Schmuggeln erwischt und muss in den Jugendknas­t. „Diese Zeit werde ich nie vergessen, als Deutscher und ehemaliger Nazi im Jugendknas­t hast du eigentlich verloren“, sagt er. „Da passieren ekelhafte, schlimme, perverse Sachen.“Gerettet hat ihn ein albanische­r Jugendlich­er aus Biberach, den er aus dem Jugendtref­f kannte. „Ich hatte den Schutz der Albaner, die waren die Könige im Knast, ohne die wäre ich verloren gewesen.“

Als er nach einem Jahr rauskommt, ist er ein anderer Mensch. Er hat Ziele, will weg aus der Kleinstadt und seinen eigenen Weg gehen: „Ich habe im Gefängnis viel über Entbehrung gelernt und durch meine ersten Meditation­en für mich erfahren, dass die Seele ewig ist“, sagt er. „Meine Rettung war dieses Gewahrwerd­en und die damit verbundene Transforma­tion meines Bewusstsei­ns. Ich erfuhr dabei den Grund meiner Aggression­en, reiste zurück in die Vergangenh­eit, tief in die Abgründe meiner Seele und schloss schließlic­h in Liebe mit allem ab. Plötzlich war ich frei, die Art von Freiheit, in der man sich jeden Tag neu erfinden kann. Ohne die Angst zum Beispiel vor dem Versagen oder sogar vor dem Tod. Deshalb habe ich angefangen zu malen und zu fotografie­ren.“

Mit 25 Jahren und nach dem Gefängnisa­ufenthalt ist das ziellose Umherirren für Nico Bergmann vorbei: „Ich wollte nie mehr was mit Politik zu tun haben. Wenn sich der Geist durch Transforma­tion ändern kann, dann kann ich vielleicht der Menschheit mit meiner Kunst ein wenig hilfreich sein. Ich habe meine Ängste verloren und kann alles über die Malerei und die Fotografie ausdrücken.“Er macht schließlic­h in München eine Ausbildung zum Fotografen. „In diesem Beruf habe ich meine Erfüllung gefunden.“

Vor fünf Jahren hat er sich in Biberach selbststän­dig gemacht und sein eigenes Fotostudio in der Wielandstr­aße eröffnet. Hier kann sich Nico Bergmann künstleris­ch austoben. „Ich habe meinen Weg gefunden und gehe ihn weiter. Ohne Ängste, ohne Hass. Wir sind alle Menschen und unterschei­den uns in nichts voneinande­r. Wir alle spielen das Spiel mit dem Namen Leben, und jeder Gedanke von Zweifel dient nur unserem eigenen Nachteil“, sagt er.

„Ich strebe sehr danach, den fragenden Menschen mit meinem Wissen und meiner Kunst eine Richtung zu geben. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass der Weltfriede möglich ist. Wenn wir alle die Gedanken des Selbstzwei­fels und der Getrennthe­it umkehren in Urvertraue­n und Einklang.“

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FOTOS: PRIVAT Nico Bergmann gehörte früher der rechtsradi­kalen Szene in Biberach an, heute ist er ein ausgebilde­ter und anerkannte­r Fotograf.
 ??  ?? Nico Bergmann stand früher zu seiner Gesinnung.
Nico Bergmann stand früher zu seiner Gesinnung.
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Zwischen dem Bild links und diesem Foto von Nico Bergmann liegen mehr als 20 Jahre.
 ??  ?? In diesem Kurzfilm spielte Bergmann mit.
In diesem Kurzfilm spielte Bergmann mit.
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Heute verarbeite­t der 43-Jährige seine Gefühle in der Kunst.
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FOTO: TANJA BOSCH Sebastian Lipp

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