Schwäbische Zeitung (Biberach)

Wegkreuze

- Von Muriel Sender

I●

ch bin neu in Oberschwab­en. Beim Erkunden der Dörfer und der schönen Landschaft fällt mir auf, wie viele Wegkreuze es hier gibt. An Weggabelun­gen, an markanten Stellen oder auch an Orten, an denen sie sich eher unscheinba­r in die Umgebung einfügen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ein neues Kreuz entdecke.

An viele dieser Kreuze knüpfen sich Geschichte­n an: sie kennzeichn­en besonders gefährlich­e Stellen, an denen jemand verunglück­te. Andere erzählen die Geschichte eines schlimmen Verbrechen­s. Pestkreuze erinnern an die Bedrohung durch die Pest. Manche Kreuze dienen als Wegzeichen für Wanderer und Pilger oder markieren Stationen bei Wallfahrte­n. Bildstöcke laden zum Innehalten und zur persönlich­en Andacht ein. Und viele Kreuze wurden gestiftet als Dank für die Bewahrung vor Unheil. Würde sich diese

Tradition fortsetzen, gäbe es vermutlich in ein paar Jahren noch viel mehr solcher Kreuze – im Gedenken an die unzähligen Opfer der CoronaPand­emie und als Zeichen der Dankbarkei­t

darüber, dass man diese schlimme Zeit durchlebt und überstande­n hat.

Das Ereignis, auf das sich alle Wegkreuze zurückbezi­ehen, ist die Kreuzigung Jesu. Diese haben wir nun mit Karfreitag hinter uns gelassen. Doch in diesem Jahr lassen mich die Wegkreuze auch nach Ostern mehr an die Kreuzigung als an die Auferstehu­ng denken. Und daran, dass Jesus nicht wie ein Held vom Kreuz herunterkl­etterte, sondern im Angesicht des Todes rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“Auch wir dürfen zu Gott rufen und klagen: Unsere Enttäuschu­ng, unsere Entbehrung­en, unsere Fragen, unser zaghaftes Hoffen! Die Gewissheit, dass sich Gott uns auch in unserem Klagen und Seufzen zuwendet, so wie er sich Jesus am Kreuz zuwandte, kann einen Raum des Vertrauens eröffnen. Viele Fragen finden bei der Hinwendung zu Gott zwar keine unmittelba­ren Antworten, so etwa auch die Fragen,

die der Psalmbeter in Psalm 13 stellt. Diese Fragen könnten auch unsere Fragen heute sein: „Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“Wir wissen nicht, wie lange das lebensfein­dliche Virus uns noch beschäftig­en wird. Aber auch ohne unmittelba­re Antwort kommt der Psalmbeter wenige Zeilen später zu der Einsicht: „Ich aber traue darauf, dass du Gott so gnädig bist.“Durch die Klage hindurch hat sich ein Vertrauen eingestell­t. Denn die Klage hat die Beziehung zu Gott aufrechter­halten, gefestigt. Wie ein guter Freund, dem man auch das erzählen kann, was ganz und gar nicht gut ist, weil man ihm vertraut.

Vielleicht erinnert uns manches Wegkreuz daran, kurz anzuhalten und innerlich zu rufen „Mein Gott, mein Gott, warum…?“oder „ich aber traue darauf, dass…“.

Eine gesegnete Osterzeit!

 ?? FOTO: PRIVAT ?? Pfarrerin Muriel Sender, Versöhnung­skirche Ummendorf
FOTO: PRIVAT Pfarrerin Muriel Sender, Versöhnung­skirche Ummendorf

Newspapers in German

Newspapers from Germany