Schwäbische Zeitung (Biberach)
Wegkreuze
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ch bin neu in Oberschwaben. Beim Erkunden der Dörfer und der schönen Landschaft fällt mir auf, wie viele Wegkreuze es hier gibt. An Weggabelungen, an markanten Stellen oder auch an Orten, an denen sie sich eher unscheinbar in die Umgebung einfügen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ein neues Kreuz entdecke.
An viele dieser Kreuze knüpfen sich Geschichten an: sie kennzeichnen besonders gefährliche Stellen, an denen jemand verunglückte. Andere erzählen die Geschichte eines schlimmen Verbrechens. Pestkreuze erinnern an die Bedrohung durch die Pest. Manche Kreuze dienen als Wegzeichen für Wanderer und Pilger oder markieren Stationen bei Wallfahrten. Bildstöcke laden zum Innehalten und zur persönlichen Andacht ein. Und viele Kreuze wurden gestiftet als Dank für die Bewahrung vor Unheil. Würde sich diese
Tradition fortsetzen, gäbe es vermutlich in ein paar Jahren noch viel mehr solcher Kreuze – im Gedenken an die unzähligen Opfer der CoronaPandemie und als Zeichen der Dankbarkeit
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darüber, dass man diese schlimme Zeit durchlebt und überstanden hat.
Das Ereignis, auf das sich alle Wegkreuze zurückbeziehen, ist die Kreuzigung Jesu. Diese haben wir nun mit Karfreitag hinter uns gelassen. Doch in diesem Jahr lassen mich die Wegkreuze auch nach Ostern mehr an die Kreuzigung als an die Auferstehung denken. Und daran, dass Jesus nicht wie ein Held vom Kreuz herunterkletterte, sondern im Angesicht des Todes rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“Auch wir dürfen zu Gott rufen und klagen: Unsere Enttäuschung, unsere Entbehrungen, unsere Fragen, unser zaghaftes Hoffen! Die Gewissheit, dass sich Gott uns auch in unserem Klagen und Seufzen zuwendet, so wie er sich Jesus am Kreuz zuwandte, kann einen Raum des Vertrauens eröffnen. Viele Fragen finden bei der Hinwendung zu Gott zwar keine unmittelbaren Antworten, so etwa auch die Fragen,
die der Psalmbeter in Psalm 13 stellt. Diese Fragen könnten auch unsere Fragen heute sein: „Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“Wir wissen nicht, wie lange das lebensfeindliche Virus uns noch beschäftigen wird. Aber auch ohne unmittelbare Antwort kommt der Psalmbeter wenige Zeilen später zu der Einsicht: „Ich aber traue darauf, dass du Gott so gnädig bist.“Durch die Klage hindurch hat sich ein Vertrauen eingestellt. Denn die Klage hat die Beziehung zu Gott aufrechterhalten, gefestigt. Wie ein guter Freund, dem man auch das erzählen kann, was ganz und gar nicht gut ist, weil man ihm vertraut.
Vielleicht erinnert uns manches Wegkreuz daran, kurz anzuhalten und innerlich zu rufen „Mein Gott, mein Gott, warum…?“oder „ich aber traue darauf, dass…“.
Eine gesegnete Osterzeit!