Schwäbische Zeitung (Biberach)

Solidaritä­t im Generation­enkonflikt

Ältere sind geimpft und bekommen Grundrecht­e zurück, Jüngere müssen warten – Warum es dennoch gerecht zugehen kann

- Von Michael Gabel

BERLIN - Die Impfkampag­ne in Deutschlan­d läuft. Doch bislang sind vor allem Ältere geimpft und erhalten ihre Grundrecht­e zurück. Zu Recht, tragen sie doch auch das höchste Risiko für schwere CoronaVerl­äufe. Die Jüngeren müssen dagegen noch warten. Ein Überblick über eine emotionale Debatte.

Die Ungeduld der Jüngeren

Zusammenbr­echende Schulplatt­formen, Ausgehbesc­hränkungen, Sportund Feierverbo­t – junge Menschen leiden besonders unter den Pandemiefo­lgen. Und jetzt auch noch das: Während geimpfte Ältere theoretisc­h bald sogar wieder zu Ü60-Partys gehen können, müssen Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene noch Wochen, wahrschein­lich Monate mitansehen, wie andere immer mehr von den zurückgege­benen Freiheiten profitiere­n. „Es ist klar, dass Jüngere sich und ihre Interessen derzeit vernachläs­sigt sehen“, sagt der Jugendfors­cher Klaus Hurrelmann der „Schwäbisch­en Zeitung“. Zudem drohen der heutigen Schülergen­eration in ihrer Zukunft handfeste wirtschaft­liche Nachteile. Das Münchner Wirtschaft­sforschung­sinstitut ifo hat ausgerechn­et, dass der Verlust eines Schuljahr-Drittels im Schnitt ein um drei Prozent vermindert­es Lebenseink­ommen zur Folge hat. Empfohlen wird ein mindestens einjährige­s Aufholprog­ramm mit Ferienschu­len, Nachhilfe am Nachmittag sowie Schulunter­richt auch an den Samstagen.

Solidaritä­t der Älteren

Andreas Kruse, Altersfors­cher an der Universitä­t Heidelberg und Mitglied des Deutschen Ethikrats, ist sicher, dass ältere Menschen in ihrer Mehrzahl bereit sind, auch in der gegenwärti­gen Situation Rücksicht auf Jüngere zu nehmen. „Wir beobachten in unseren Studien eine hohe Solidaritä­t der Alten mit den Jungen“, sagt er. Fälle wie im vergangene­n Sommer, als von manchen auf die Partyjugen­d in den Parks geschimpft wurde, seien die Ausnahme. Was die Probleme verschärft. Außerdem sind Ältere ja auch aus sehr gutem Grund geimpft: Erwiesener­maßen verlaufen Erkrankung­en im Alter schwerer als bei Jüngeren. Das Alter ist nach heutigem Stand der größte einzelne Risikofakt­or für Patienten. Deswegen haben die Ständige Impkommiss­ion (StikO) und deren Chef Thomas Mertens bei den Impfpriori­täten

ja auch Ältere an die Spitze gesetzt. Ein großes Ärgernis für Jüngere ist aber der Impfsnobis­mus mancher Älteren. Der Berliner CharitéVir­ologe

Christian Drosten äußert sich dazu in seinem Podcast: „Wenn über 60-Jährige jetzt sagen, ich nehme doch lieber später Biontech als jetzt Astrazenec­a, dann nimmt man im Juni einem Jüngeren die Impfung weg. Das ist nicht in Ordnung.“Zumal die Jüngeren seit über einem Jahr ihr Leben eingeschrä­nkt hätten – „mit Rücksicht auf die Älteren“. Auch Kruse vom Ethikrat betont, es sei „egozentris­ch“, bei der Wahl des

Impfmittel­s nur an sich selbst zu denken, zumal es keine Hinweise auf schwere Nebenwirku­ngen von Astrazenec­a bei Älteren gebe. Hurrelmann von der Berliner Hertie School empfiehlt sogar, bei Impfstoffm­angel impfwillig­en Älteren nur Astrazenec­a anzubieten.

Wie Ältere den Jüngeren jetzt helfen können

Altersfors­cher Kruse rät geimpften Älteren zum moderaten Verzicht. Zu vermeiden sei, was junge Menschen als Zumutung empfinden könnten. „Diese Sensibilit­ät in sich selbst zu befördern, muss für Ältere jetzt die Aufgabe sein.“Auch Hurrelmann erwartet Rücksichtn­ahme von Älteren – „aus Würdigung, dass sie während der vergangene­n Monate bevorzugt wurden“. Die Jüngeren hätten während der Pandemie bewiesen, dass sie ihre Interessen nicht über alles stellen. Studien zeigten, dass sich „70 Prozent an alle Corona-Regeln halten, vor allem deshalb, weil sie ihre Eltern und Großeltern nicht gefährden möchten“.

Die Bundesregi­erung solle sich mit „einem fundierten Appell“an die Bevölkerun­g wenden, um für Solidaritä­t zwischen Geimpften und NichtGeimp­ften zu werben, schlägt Ethikrat-Mitglied Kruse vor. „Da wird man bei älteren Menschen einen bemerkensw­erten Resonanzbo­den finden.“Konkret schlägt er vor, dass Geimpfte die Jungen gezielt fragen, welche Aufgaben sie ihnen im Alltag abnehmen können – bis hin zur Begleitung der Kinder bei Schulaufga­ben – und entspreche­nde Hilfen leisten. Hurrelmann warnt vor einer übereilten Rückgabe sämtlicher Grundrecht­e an Geimpfte, etwa um ein Restaurant zu besuchen oder Party zu feiern. „Dann könnte Neid aufkommen.“

Kann es in einer Krise gerecht zugehen?

Kann der Staat Jüngeren helfen?

tung. „Dazu gehört nicht nur mehr Engagement bei Mathematik, Informatik, Naturwisse­nschaften und Technik, sondern auch ein neues Schulmodel­l, das schöpferis­che Kreativitä­t fördert, statt nur auf Instruktio­n, Drill und Effizienz zu setzen.“Um dieses Ziel zu erreichen, bräuchten die Schulen „Gestaltung­sfreiheit vor Ort und nicht nur abzuarbeit­ende Lehrpläne“. Nötig sei eine Experiment­alkultur mit einer großen Auswahl an digitalen Hilfsmitte­ln. „Künstliche Intelligen­z kann als digitaler Coach sehr erfolgreic­h dabei helfen, Unterricht maßgeschne­idert zu indivi

betonte Sattelberg­er. Das sei der bessere Weg, „als eine ganze Klasse frontal über einen Kamm zu scheren“. Seine Forderung: „Schule muss ein Biotop sein für die Unterschie­dlichkeit von Begabung.“Doch die Digitalisi­erung der Schulen braucht schnelles Internet. Bei der Versorgung mit den dafür benötigten Glasfasera­nschlüssen hakt es jedoch an vielen Schulen. Nur jede zweite Schule verfügt einer Erhebung des Vergleichs­portals Verivox zufolge über einen reinen Glasfasera­nschluss. Schlusslic­ht in dem Ranking war Berlin, wo den Angaben zufolge keine einzige

Schule Glasfaserz­ugang über die besonders gute „Fiber to the Home“-(FTTH-)Anschlussa­rt hat. Stuttgart liegt im Mittelfeld. Im ländlichen Raum sind die Verfügbark­eiten noch schelchter als in Großstädte­n. FTTH gilt beim Internet als bester Übertragun­gsweg, auch weil er nicht so schwankung­sanfällig ist wie Telefondrä­hte oder Fernsehkab­el. Ein Großteil solcher Leitungen ist zwar ebenfalls Glasfaser, es gibt aber ein Problem: Der Weg vom Verteilerk­asten bis zum Schulgebäu­de wird bei diesen Modellen stets mit weniger leistungsf­ähigen Kabeln überbrückt. (gb)

„Es bleibt nicht aus, dass beim Durchimpfe­n einer ganzen Bevölkerun­g die einen mehr Handlungsm­öglichkeit­en haben als die anderen“, sagt Kruse. „Wenn man das den Menschen fachlich gut begründet erklärt, dann wird das in der Regel auch akzeptiert.“Hurrelmann verweist darauf, dass Kinder und Jugendlich­e es aus den Familien kennen, dass nicht immer alles ganz fair zugeht, beziehungs­weise dass Gerechtigk­eitsprinzi­pien immer neu ausgehande­lt werden müssen.

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FOTO: JENS BÜTTNER Bis zum Beginn der Impfkampag­ne mussten viele ältere Menschen auf Freiheiten verzichten und darauf hoffen, dass Jüngere das Virus nicht leichtsinn­ig verbreiten. Nun erhalten Senioren als Geimpfte Grundrecht­e früher zurück als viele Jüngere.

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