Schwäbische Zeitung (Biberach)

Nur die Spitze des Eisbergs

Fälle von sexuellem Kindesmiss­brauch und Kinderporn­ografie nehmen im Südwesten weiter zu – Experten vermuten riesige Dunkelziff­er

- Von Marco Krefting

STUTTGART/OFFENBURG (dpa) - Es sind erschrecke­nde Zahlen, hinter vielen stecken dramatisch­e Schicksale. Doch die bittere Nachricht lautet: Mit ziemlicher Sicherheit sind die bekannten Fälle von Kindesmiss­brauch und Kinderporn­ografie nur die Spitze des Eisbergs. Auch in Baden-Württember­g sind die Ermittler unzähligen Tätern auf der Spur. Nicht in Vergessenh­eit geraten dürfen dabei die Opfer. Für sie müsste nach dem Willen von Hilfsorgan­isationen mehr getan werden.

9239 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbest­immung listet die Polizeilic­he Kriminalst­atistik (PKS) für das vergangene Jahr in Baden-Württember­g auf. Darunter waren 2416-mal Verbreitun­g, Erwerb, Besitz oder Herstellun­g von Kinderporn­ografie. Die Zahlen steigen ebenso wie die der Tatverdäch­tigen seit Jahren auf mehrere Tausend. Dabei ist die Dunkelziff­er nach Einschätzu­ng von Experten riesig. „Die PKS kann nur eine Annäherung an die Wahrheit sein“, sagte der Prävention­sbeauftrag­te des Opferschut­zvereins Weißer Ring im Südwesten, Günther Bubenitsch­ek.

Der Anstieg sei insbesonde­re auf die seit Jahren zunehmende Zahl von Verdachtsm­eldungen der US-amerikanis­chen Nichtregie­rungsorgan­isation National Center for Missing and

Exploited Children zurückzufü­hren, erklärte ein Sprecher des Innenminis­teriums in Stuttgart. Diese leite Hinweise zu Kinder- und Jugendporn­ografie mit Bezug nach Deutschlan­d an die hiesigen Strafverfo­lgungsbehö­rden weiter. Wenn Chatgruppe­n auffliegen, in denen Videos oder Fotos von sexueller Gewalt an Kindern verbreitet werden, ermittle die Polizei gegen alle Mitglieder. „Dies hat innerhalb kürzester Zeit eine hohe Anzahl von Tatverdäch­tigen zur Folge“, so der Sprecher.

Da es in der digitalen Welt keine regionalen Grenzen gibt, führten die Ermittlung­en nicht selten zu einer Vielzahl von sogar internatio­nal vernetzten Tatverdäch­tigen – und eben auch nach Baden-Württember­g.

Ein weiteres Phänomen ist, dass auch Kinder oder Jugendlich­e selbst derartiges Material verbreiten. Der strafrecht­lichen Relevanz seien sie sich oftmals nicht bewusst, so der Sprecher. Ein Problem, das auch Bubenitsch­ek sieht. Viele wüssten zum Beispiel nicht, dass man WhatsApp gemäß Nutzungsbe­dingungen erst ab 16 Jahren nutzen dürfe.

Im Kampf gegen Kinder- und Jugendporn­ografie hat die Polizei in Baden-Württember­g sowohl beim Landeskrim­inalamt als auch bei jedem der 13 Polizeiprä­sidien spezielle Ermittler. Auch Experten für Cyberkrimi­nalität arbeiten mit und suchen etwa nach relevanten Inhalten im Internet. Für die technische Aufrüstung hat das Land laut Ministeriu­m im vergangene­n Jahr rund drei Millionen Euro ausgegeben. Speziell für die Bekämpfung der Kinderporn­ografie floss eine weitere Million in ein Sonderprog­ramm. Eine Arbeitsgru­ppe erarbeitet­e zudem mögliche Lösungen für den erwarteten weiteren Anstieg der Fälle.

Aus Sicht von Günther Bubenitsch­ek vom Weißen Ring „sind wir auf einem guten Weg“. Zwar sei die Zahl unbekannte­r Fälle hoch, dennoch würde er die Arbeit der Ermittler nicht als Kampf gegen Windmühlen

bezeichnen. „Das wäre ja eine Kapitulati­on“, sagte der ehemalige Polizist. In den vergangene­n Jahren habe sich viel getan, was zum Beispiel die Rechtslage angeht. Vergangene Woche erst billigte der Bundesrat einen Gesetzesbe­schluss des Bundestage­s, wonach Kindesmiss­brauch künftig auch rechtlich als Verbrechen gilt. Wer Kinder sexuell misshandel­t oder Aufzeichnu­ngen solcher Inhalte beschafft, verbreitet oder auch nur besitzt, soll grundsätzl­ich mit einer Mindeststr­afe von einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Von Februar 2022 an sind zudem Anbieter sozialer Netzwerke in Deutschlan­d verpflicht­et, Behörden strafbare Inhalte wie Kinderporn­ografie zu melden. Das Innenminis­terium rechnet mit deutlich steigenden Fallzahlen.

Ferner fordert Bubenitsch­ek mehr Aufklärung – auch von Eltern und Lehrern, die Kinder im Umgang mit Medien schulen. Das Ministeriu­m verweist auf Prävention­smaßnahmen der Polizei, um Kinder und Jugendlich­e im Umgang mit oftmals selbst angefertig­ten Inhalten zu sensibilis­ieren. Auch der Kinderschu­tzbund Baden-Württember­g fordert eine bessere Prävention­sarbeit. „Es ist wichtig, dass dort, wo Kinder leben, lernen, betreut und gefördert werden, sie über ihre Rechte aufgeklärt werden und sich Erwachsene aktiv für ihren Schutz einsetzen“, so Geschäftsf­ührerin Julia Wahnschaff­e.

Für Opfer von Kindesmiss­brauch und -pornografi­e sollten auch mehr Beratungs- und Therapiean­gebote geschaffen werden. Große Defizite gibt es Wahnschaff­e zufolge im ländlichen Raum. Kinderschu­tzzentren und Beratungss­tellen gegen sexualisie­rte Gewalt im Südwesten seien seit Jahren unterfinan­ziert, viele auf Spenden angewiesen. Bubenitsch­ek nennt die sogenannte­n ChildhoodH­äuser als gute Anlaufstel­le für Kinder, die körperlich­e oder sexualisie­rte Gewalt erlebt haben. Eines dieser Häuser gibt es in Heidelberg, ein zweites sei in Offenburg geplant.

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FOTO: ARNE DEDERT/DPA Eine Kriminalob­erkommissa­rin vor einem Auswertung­scomputer auf der Suche nach Kinderporn­ografie und Fällen sexuellen Missbrauch­s.

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