Schwäbische Zeitung (Biberach)
Schon früher wurde nachmittags gebüffelt
Ganztagsunterricht ist keine neue Erfindung, wie ein Blick in die Biberacher Geschichte zeigt
BIBERACH (sz) - Ganztagsschulen im Grundschulbereich, über die aktuell auch in Biberach viel diskutiert wird, sind keine Erfindungen der Gegenwart. Darauf weist Guido SeelmannEggebert hin. Er ist Berater von Schulen und Kommunen in allen Fragen der Ganztagsschulentwicklung und hat in diesem Zusammenhang auch einen Blick in die Biberacher Schulhistorie geworfen. Die Stadt sei mit ihren Plänen für Ganztagsschulen dabei auf dem richtigen Weg, so SeelmannEggebert.
Ab dem Schuljahr 2026/2027 sollen Kinder, die in Deutschland und damit auch in Baden-Württemberg eingeschult werden, in den ersten vier Schuljahren beginnend mit der Klasse 1 einen Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung bekommen. So hat es die Bundesregierung beschlossen. Eine große Herausforderung für das Land und die Kommunen. Auch Biberach stellt sich dieser Herausforderung, indem der Schulträger Anstrengungen unternimmt, mit den Halbtagsgrundschulen der Kernstadt – wie vom Gemeinderat gewünscht – Prozesse anzustoßen, um Schritte hin zu einer Ganztagsbetreuung nach dem Schulgesetz Paragraf 4a gemeinsam zu diskutieren und zu bewegen.
Baden-Württemberg fördert und unterstützt diesen Prozess durch die Bereitstellung zusätzlicher Lehrerstellen an den Schulen sowie der Bezuschussung weiterer Flächen für Ganztagsangebote. Die kommunale Grundschulbetreuung kann zeitlich an die Ganztagsschule angepasst und teilweise auch integriert werden.
Ganztagsschulen in Biberach sind übrigens nichts Neues. Lateinschulen in Biberach sind seit dem 16. Jahrhundert oder auch noch früher nachweisbar. Ein Stundenplan der Memminger Lateinschule von 1513, der wohl auch für Biberach galt, weist Vor- und Nachmittagsunterricht an einem Schultag aus, unterbrochen von Pausen, in den die Kinder in die Kirche oder auch nach Hause gingen. Der Unterricht begann sehr früh. Das Mittagessen wurde im Mittelalter und der frühen Neuzeit meist gegen 10 Uhr vormittags eingenommen.
Ähnliche Stundenpläne lassen sich in Deutschland laut SeelmannEggebert überall finden. Vor- und Nachmittagsunterricht war zumindest an Lateinschulen und später an Gymnasien über viele Jahrhunderte das Normale. Nur an Volksschulen wurde der Unterricht im Sommer auf dem Land stark eingeschränkt, weil die Kinder in der Landwirtschaft benötigt wurden.
Nachdem in Preußen mit der Einrichtung von Halbtagsschulen an höheren Schulen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen wurde, nicht zuletzt deshalb, weil der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II gefordert hatte, dass der Nachmittag für sportliche Betätigung, Exerzieren und Kriegsspiele genutzt werden sollte, wurden nach dem Ersten Weltkrieg auch in Baden und Württemberg zunehmend die Halbtagsschule an Gymnasien eingeführt. Auch die Lehrerschaft drängte auf die Abschaffung des Nachmittagsunterrichts. Aber erst 1938 wurde der Nachmittagsunterricht an allen noch verbliebenen Ganztagsschulen an Gymnasien durch ein Gesetz der Nationalsozialisten untersagt.
An Volksschulen verblieb man jedoch noch lange bei der Ganztagsschule in Baden-Württemberg. Vielleicht erinnern sich noch ältere Mitbürger, die in den 1950er- und 60erJahren die Grundschule/Volksschule in Biberach besuchten, daran, dass sie an drei oder vier Tagen in der Woche nachmittags für meist zwei Stunden nochmals in die Schule mussten. Das Mittagessen wurde jedoch zu Hause im Kreis der Familie eingenommen. An einem Stundenplan der Volksschule in Rißegg, der im Biberacher Stadtarchiv aufbewahrt wird, kann man das deutlich erkennen. Der Mittwochund Samstagnachmittag war jedenfalls unterrichtsfrei. Diese Unterrichtsverteilung auf Vor- und Nachmittag lässt sich noch in den 60er-Jahren an vielen Schulen nachweisen. Erst gegen Ende der 60er-Jahre wird der Nachmittagsunterricht schrittweise reduziert, bis er schließlich ganz wegfiel. An einem Stundenplan der Braith-Grundschule von 1968/69 (siehe Foto oben), der ebenfalls im Stadtarchiv aufbewahrt wird, ist das deutlich erkennbar.
Warum kehrt Deutschland und damit auch Baden-Württemberg wieder zur Ganztagsschule zurück? Der Sonderfall „Halbtagsschule“in Deutschland war „eine bildungspolitische, sozialpädagogische und pädagogische Fehlentwicklung, die nun mühsam wieder zurückgenommen werden muss“, so Seelmann-Eggebert. Nach der Pisa-Studie von 2000 mit den schlechten Ergebnissen in den Schülerleistungen im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten wurde die Notwendigkeit und Forderung nach Einrichtung von Ganztagsschulen deutlich. Gleichzeitig stieg auch der Betreuungsbedarf am Nachmittag für Kinder, deren Eltern beide berufstätig waren.
Aber mit Betreuung allein ist es nicht getan. Es geht um die Verbesserung von Schülerleistungen sowohl der Kinder aus schwierigen häuslichen Verhältnissen, Kindern mit Migrationshintergrund, aber auch von
Kindern aus wohlbehüteten Familien, da in Deutschland zunehmend auch die „Spitzenleister“fehlen. „Gerade die Pandemie hat deutlich gezeigt, welchen Stellenwert die Schule und damit besonders die Rückkehr zur Ganztagsschule hat“, sagt SeelmannEggebert. Innovative und erfolgreiche Schulen in Deutschland arbeiten bereits als Ganztagsschulen. Der Deutsche Schulpreis wird regelmäßig seit Jahren an Ganztagsschulen vergeben. Kreative Konzepte für Schulen lassen sich am besten an Ganztagsschulen mit einem Lernen ohne Zeitdruck verwirklichen. Das Schulgesetz lässt variable Möglichkeiten einer Ganztagsschulentwicklung an Grundschulen zu.
So können die Kommunen gemeinsam mit den Schulen ein gebundenes Modell oder die Wahlform an der jeweiligen Schule aufbauen. Sie können an drei oder vier Tagen ein Nachmittagsangebot bis 15 Uhr oder 16 Uhr mit anschließender kommunaler Betreuung anbieten. Für Eltern ist das schulische Angebot kostenfrei und damit sicher finanziell günstiger als die bisherigen kommunalen Betreuungsangebote.
Entscheidet sich die Schule in Absprache mit dem Schulträger für ein gebundenes Modell, so ist der Schulbesuch für alle Kinder an der Schule verpflichtend. In der Wahlform entscheiden die Eltern, ob sie das Ganztagsangebot für jeweils ein Jahr in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Die vermeintlichen Vorteile der Wahlform durch die Entscheidungsfreiheit der Eltern verdecken jedoch die Nachteile, dass erst in der gebundenen Ganztagsschule das Lernen schülergerecht rhythmisiert werden kann.
In der gebundenen Ganztagsschule, in der alle Kinder am Nachmittag
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Corona-Schnelltestpraxis, www.schnelltestpraxisbc.de, 0157/ 37915608, Café Berlin, Waldseer Str. 3, Sa, 8-14 Uhr
Corona-Testzentrum, nur nach vorheriger Online-Terminbuchung, schnelltest.biberach-riss.de, Stadthalle Biberach, Theaterstr. 6, Sa, 8-12 Uhr Corona-Testzentrum, Terminvereinbarung unter https://c2testcenter.com/ oder vor Ort, Obi-Parkplatz, HubertusLiebrecht-Straße 44, Sa, 8-20 Uhr Corona-Testzentrum, mit Terminvereinbarung, https://www.hi-testzentrum.de, POCO-Parkplatz, Sandgrabenstr. 78, Sa, 8.30-19 Uhr
Testzentrum Rainer Schmidt, Astiallee 91, Terminvereinbarung unter Tel. 07351/188181. Tests sind bei Bedarf auch an Wochenenden und Feiertagen möglich anwesend sind, kann man den Tag ganz anders gestalten und einen Teil des Unterrichts am Nachmittag anbieten. So könnte man sich dem biologischen Rhythmus von Kindern besser anpassen. Außerdem entfällt mittags die soziale Trennung, dass ein Teil der Kinder nach Hause geht und andere in der Schule verbleiben. Zudem gibt es eine große Schnittmenge zwischen Lehrpersonen und dem weiteren pädagogischen Personal, eine wichtige Voraussetzung für ein kooperatives, multiprofessionelles Team an Ganztagsschulen zum Wohl der Kinder.
Trotzdem erscheint es durchaus sinnvoll, in der Wahlform zu beginnen und erst nach einigen Jahren Erfahrung über einen Wechsel zum gebundenen Modell zu entscheiden. Im Grundschulbereich könnte ein Unterrichtsende um 15 Uhr an vier Tagen in der Woche durchaus sinnvoll sein, weil es dann noch viele Möglichkeiten gibt, den Nachmittag in Sport- und Musikvereinen zu gestalten. Hausaufgaben sollen dann auch weitgehend erledigt sein. „Die Halbtagsschule ist ein Auslaufmodell", bemerkte der frühere Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) und heutige stellvertretende Ministerpräsident Bernd Althusmann (CDU) aus Niedersachsen bereits vor zehn Jahren. Die Stadt Biberach ist mit der schrittweisen Einrichtung von Ganztagsschulen also auf dem richtigen Weg, so SeelmannEggebert.
Guido Seelmann-Eggebert ist seit 2003 Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes Hessen. Er war Lehrer in Frankfurt am Main und Wiesbaden und zuletzt Rektor einer Gesamtschule in Wiesbaden. Er ist Fachberater für Ganztagsschulen und führt Fortbildungen und Tagungen der „lea bildungsgesellschaft“der GEW Hessen durch. Auch für die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“in Hessen und Baden-Württemberg war er tätig.