Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Chancengleichheit gibt es nur auf dem Bolzplatz“
Fanforscher Lange sieht dauerhaft keine Möglichkeit zum Wandel – Corona dürfte Fußball für immer verändern
RAVENSBURG - Die Bundesliga ist zurück, die Fans singen in den Stadien, und dennoch gibt es rund um den europäischen Fußball haufenweise Probleme. Fanforscher Harald Lange (Foto: privat) von der Universität Würzburg sieht die CoronaPandemie sogar als Zäsur, die den Fußball für immer verändern könnte. Felix Alex hat mit ihm gesprochen.
Herr Lange, der Fußball ist zurück und mit ihm Tausende von Fans in den Stadien. Sie als Fanforscher, wo waren Sie am ersten Bundesligawochenende zur Feldstudie?
An meinem Fernseher. Ich habe wie die Wochen und Monate zuvor auch über die sozialen Netzwerke mit diversen Fans kommuniziert und bin da nicht extra in ein Stadion gefahren. Allgemein war ich noch nie der Vollblutstadiongänger, auch wenn ich ab und zu hingehe. Ich arbeite eher im Archiv, in der Bibliothek, am PC und treffe mich mit Fans im Alltag. Generell ist ja jede Quelle im Hinblick auf das Konstituieren eines Gesamtbildes wertvoll. Im Stadion wären für den Forscher die Gespräche zudem emotional geprägt, weil man sich mitreißen lässt, und wären nicht immer objektiv.
Dennoch haben Sie ein dezidiertes Bild. Als Otto-Normal-Zuschauer scheint im Stadion schon alles wie vor der Pandemie, die Fans machen Stimmung. Trügt der Schein?
Fakt ist, dass die meisten Spiele annähernd ausverkauft waren und diejenigen, die da waren, auch sichtlich Freude an dem Ganzen hatten. Was anders war, ist der Support der Ultragruppen, der entweder gar nicht vorhanden war oder deutlich zurückhaltender als gewohnt. Das ist aber aktuell nicht das entscheidende gesellschaftliche Thema. Wichtiger ist, dass die Stadien wieder vergleichsweise üppig geöffnet werden und es eine positive Botschaft gibt.
Sie sprechen die Ultras an, von denen einige fernbleiben. Die ClubBosse scheint es nicht zu stören, die übrigen Fans bekommen es kaum mit, wieso diese Symbolpolitik?
Das ist nur in Ansätzen Politik, sondern eher ein Statement. Da steckt keine PR oder ein langfristiges Ziel dahinter. Es bedeutet schlicht: Wir machen da nicht mit. Diese authentische Haltung sagt etwa aus, dass man als organisierter Fan etwa nicht mitgehen muss bei dem Thema, dass man sich registrieren lässt, um in das Stadion zu gehen. Personalisierte Tickets sind seit Jahren ein kritisiertes Thema – und nur, weil es jetzt sehr gute Gründe dafür gibt, kann man nicht vom Kurs abschwenken.
Kann es auch sein, dass sich einige Gruppen abgesondert oder abgewendet haben und nun lieber zum Amateurfußball gehen und der Bundesliga dauerhaft fernbleiben?
Das Abwandern in den Amateurfußball war sogar eine große Erwartung und Hoffnung des Amateurfußballs, aber das findet praktisch nicht statt. Etwas anders sieht es beim Abwenden aus. Viele, ich nenne sie mal „Teilzeitfans“, haben die Alternative nicht etwa im Amateurfußball entdeckt, sondern haben in den letzten 16 Monaten erkannt, dass ihr Leben noch andere Sachen zu bieten hat und Fußball nicht mehr Freizeitbeschäftigung Nummer 1 ist. Die verbringen nun noch mehr Zeit mit der Familie, machen interessante Sachen in der Wohnung, am Haus oder im Garten. Für diejenigen ist der Fußball als Unterhaltungsschwer
● punkt austauschbar geworden. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Dass König Fußball nicht mehr Lebensinhalt, sondern nur noch pure Unterhaltung ist?
Genau. In Zeiten, in denen die Nachfrage groß ist, wird dem Fußball die Bude eingerannt, aber wenn andere Formate interessanter werden, gehen die Fans wieder weg. Ich würde es so werten, dass die Bindung ein Stück oberflächlicher geworden ist und gebrochen wurde.
Auch die jüngsten Auswüchse (Stichwort Messi) statt der propagierten Demut haben sicherlich nicht gerade das Band gestärkt.
Diese Floskeln, dass der Profifußball mehr Demut zeigen und Reformen einleiten müsste, hat nun jetzt wirklich der Allerletzte auch als Nebelkerze eingeordnet. Allein diejenigen Proficlubs, die jetzt etwas weniger Finanzmittel haben, halten sich zurück, würden aber sofort wieder mitmachen, wenn sie könnten. Das Rattenrennen, bei dem man Kohle ausgibt, die man gar nicht hat, das geht weiter, und dadurch leidet natürlich die Wertschätzung massiv.
Wobei man da immer differenzieren sollte. Wir reden hier aus der abgehobenen Position des Fußballromantikers. Es gibt aber eine nachwachsende Generation, die sich über das Pariser Dream-Team mit den Weltstars freut und eher Marken als Vereinen folgt.
Das ist ein superspannendes Thema, denn natürlich wandeln sich Kulturthemen. Da gibt es die einen, die von dem sprechen, was auch wir als Fußballnormen, -werte und -kultur bezeichnen. Von allem jenem, was aus dem Spiel heraus erwachsen ist. Und dann ist da auf der anderen Seite gerade die nachwachsende Generation, ich sage mal die etwa ab 1995 Geborenen, die neue Werte und Maßstäbe reinbringen Ab da ging Fußball vor allem als Unterhaltungsthema in die Köpfe. Die Jüngeren personalisieren zudem oft einen kleinen Kreis absoluter Weltstars und folgen dabei den Normen der Unterhaltungsindustrie. Da ist es egal, ob es ein Telenovelastar, ein anderer Sportstar, ein Sänger, eine Popgruppe oder ein Instagramstar ist. Sie folgen überall hin. Bei den Fans geht also genauso die Schere auseinander wie im Fußball zwischen den Clubs. Da ist es auch meine Aufgabe als Forscher zu sagen: Wir nennen es beides Fußball, möglicherweise nennen wir beide Gruppen auch Fußballfans, aber es sind letztlich andere Subkulturen mit unterschiedlichsten Wertekanons. Hier gilt es herauszufinden, ob es einen Werteverlust gibt oder eben nicht.
Zurück zur Bundesliga. In Europa trennt die Schere einzelne Großclubs immer mehr von der Bundesliga, und auch der FC Bayern München kommt nicht mehr hinterher. Nicht umsonst fordert Karl-Heinz Rummenigge international ein härteres Durchgreifen beim Thema Financial Fairplay.
Wenn er das ernst meinen würde, hätte er da eingreifen müssen, wo er bis vor wenigen Wochen noch Einfluss hatte: in der Bundesliga. Der Kader von Bayern München ist in etwa 20-mal so teuer wie der von Arminia Bielefeld. Da kann von Chancengleichheit ohnehin nicht die Rede sein. Chancengleichheit im Fußball sieht man nur auf dem Bolzplatz bei den Kindern. Die verändern ihre Mannschaften ganz selbstverständlich, wenn sie merken, die eine Truppe gewinnt laufend, oder geben dem schwächeren Team einige Tore Vorsprung. Die leitende Norm im Profisport ist aber eben, Geld zu machen.
Das klingt alles nach Dystopie. Was macht Ihnen als Forscher und Fußballfan denn überhaupt Mut?
Es zeigen sich ja immer wieder Momente, die diese Wirtschaftslogik durchkreuzen. Etwa am Wochenende, als der coronagebeutelte Underdog aus Mainz den Favoriten Rasenballsport Leipzig bezwingt, oder wenn Bayern mit Rekordablösetrainer Julian Nagelsmann nicht so richtig in den Tritt kommt. Das sind trotz aller Kommerzialisierung Momente, die den Fußball spannend machen und ihn aus allen anderen Unterhaltungsbereichen herausheben. Zudem werden die Fans spätestens wenn wir wieder 100 Prozent Auslastung in den Stadien haben, weiter gegen den Kommerz kämpfen.
Und wenn dies noch lange dauert oder die Entscheider die personalisierten Tickets beibehalten und das als Türöffner für noch ganz andere Umwälzungen nehmen?
Diese Hintertür ist ja eine große Befürchtung in den Fankreisen. Denn eines ist unbestritten: die 16 CoronaMonate waren überaus einschneidend und könnten daher einige Schranken gebrochen haben.