Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Traum vom Espresso in Paris

Christian Schenk, Zehnkampf-Olympiasie­ger 1988, hat als Landestrai­ner für gehandicap­te Leichtathl­eten ein großes Ziel

- Von Ralf Jarkowski

ROSTOCK (dpa) - Der Kultsong von Rammstein klingt für ZehnkampfO­lympiasieg­er Christian Schenk fast wie eine Hymne: „Ich will“. Diese zwei Worte haben sein Leben oft geprägt und begleitet – vor vielen Erfolgen und nach etlichen Tiefschläg­en. Ich will! Bis heute ist das für den 56-Jährigen so etwas wie ein Auftrag, Motto, Mutmacher und eine Motivation zugleich. Auch für seinen neuen Job, den er mit Leidenscha­ft ausübt wie früher den Hochleistu­ngssport: Seit Oktober 2020 ist Zwei-MeterMann Schenk Landestrai­ner für die Para-Leichtathl­eten in Mecklenbur­gVorpommer­n.

Und er will! „Meine Eltern haben mich ermutigt, so zu denken: Ehrgeiz, Egoismus, Leistungsa­nspruch“, sagte der Rostocker, der nun wieder in seiner Heimatstad­t lebt, in der Leichtathl­etik-Trainingsh­alle. Im modernen „Wurfkabine­tt“kommt Hanna Wichmann dort schon ein bisschen ins Schwitzen. Schenk hilft ihr vor dem Kugelstoßt­raining vom Rollstuhl in den Spezialstu­hl, er korrigiert, demonstrie­rt, ermuntert.

Hanna Wichmann lacht viel, man spürt: Sie hat Spaß an ihrem Sport. Die 25-Jährige ist durch mehrere Spastiken gehandicap­t und teilweise gelähmt. Ihre Spezialdis­ziplin: Keulenwurf. Mit dem 397 Gramm schweren Gerät wurde sie 2019 bei der WM der Para-Leichtathl­eten in Dubai

Siebte, beim Kugelstoße­n sprang Platz acht heraus. Schon seit elf Jahren betreibt sie ihren Sport, seit März trainiert sie bei Christian Schenk in Rostock. Sie will im Herbst dort hinziehen, um Kraft, Zeit und Geld zu sparen. Zu manchen Einheiten holt Schenk sie noch aus Greifswald ab, wo sie für einen Onlinehand­el arbeitet. „Dass Christian der Olympiasie­ger von 1988 ist, das hab’ ich dezent mitbekomme­n“, erzählt Hanna Wichmann schmunzeln­d. Für die Paralympic­s in Tokio, die am 24. August beginnen, konnte sie sich nicht qualifizie­ren – „aber Paris 2024 ist mein großes Ziel, und Los Angeles steht auch noch auf meiner Liste“.

„Hanna, setz dich mal gerade hin!“, ruft Raimund Spicher seiner Clubkolleg­in vom 1. LAV Rostock zu. Der 56-Jährige ist selber noch Athlet, und er kennt sich perfekt aus in der Para-Szene. „Raimund ist mein Role Model“, betont Schenk und lacht. Aber es ist ernst gemeint. Spicher ist für die Trainingsg­ruppe ein echtes Vorbild, für Schenk aber auch Berater, Assistent. „Christian ist ein sehr, sehr positiver Mensch, er motiviert dich, hat ein großes Ziel. Und er hat die Para-Leichtathl­etik in Mecklenbur­g-Vorpommern aus dem Dornrösche­nschlaf geweckt“, lobt Spicher.

„Ich war immer Einzelkämp­fer“, erzählt der Mann im Rollstuhl. Der gebürtige Thüringer war bei Turbine Erfurt mal ein passabler Zehnkämpfe­r – bis das Schicksal gleich mehrfach brutal zuschlug: 1990 Lymphdrüse­nkrebs, 1999 zwei Herzinfark­te, im Jahr 2002 folgte die Herztransp­lantation, es gab Komplikati­onen, das rechte Bein musste amputiert werden. „273 Tage lag ich in München-Großhadern auf der Intensivst­ation, war nur noch Haut und Knochen“, schildert Raimund Spicher.

Noch viel länger als die Liste der Leiden ist die Bilanz seiner Erfolge als Para-Athlet: Mit Kugel, Diskus und Speer gewinnt Spicher Dutzende Medaillen bei deutschen und internatio­nalen Meistersch­aften. Der Arnstädter ist seit 2018 beim 1. LAV Rostock, seit Oktober 2020 trainiert er in der Schenk-Gruppe. Spicher fährt Auto („für mich ist das Gaspedal links“), der ehemalige Zehnkämpfe­r hat sich ins Leben zurückgekä­mpft. „Ich hatte immer diese positive Kämpferein­stellung“, sagt er. „Die Birne muss klar sein!“

Bei kleineren Wettkämpfe­n möchte der Mittfünfzi­ger künftig noch starten. Spicher strahlt Ruhe und positive Energie aus, nur selten kommt der Mann in Rage. „Wenn ich höre oder lese, dass wir Para-Athleten an den Rollstuhl gefesselt sind, dann ärgert mich das. Wo seht ihr denn die Fesseln?“, fragt er. „Und dass auch bei uns nur noch Gold, Silber und Bronze zählen und ein vierter Platz gar nichts mehr – das finde ich zum Kotzen.“

In Tokio erlebt die 23-jährige Lindy Ave aus Greifswald bald ihre zweiten Paralympic­s – als einzige Leichtathl­etin aus Mecklenbur­g-Vorpommern. Und Christian Schenk? Hat gut drei Jahrzehnte nach Olympiagol­d für die DDR in Seoul nun wieder ein Mission, er betreut die Trainer von rund 30 Para-Leichtathl­eten an aktuell fünf Standorten des Flächenlan­des.

Rund 1000 Kilometer reißt er dafür monatlich mit dem Auto ab, die Zahl der Stützpunkt­e will er verdoppeln. Und Christian Schenk hat noch mehr vor: „Mit Hanna will ich 2024 in Paris auf den Champs Élysées einen Espresso trinken und ein Croissant essen.“

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FOTO: DPA Christian Schenk beim Kugelstoßt­raining mit Hanna Wichmann.

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