Schwäbische Zeitung (Biberach)
Wie die Jugend Hitlerjugend wurde
Mit Aufmerksamkeit und Freizeitspaß umgarnten die Nazis junge Menschen und bereiteten sie auf den Krieg vor – Ein Blick in den Rottum-Boten von damals
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OCHSENHAUSEN - Wie kann man ohne Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen? Während der Recherchen zu den historischen Romanen über das Leben meines Großvaters Franz Fricker (1890–1967) halfen mir neben zahlreichen Zeitzeugengesprächen und Quellen aus Archiven auch der Rottum-Bote und seine Nachfolgezeitungen dabei, ein Gespür für die großen und kleinen Themen der jeweiligen Zeit zu entwickeln. Was waren die Schlagzeilen, die die Titelseiten beherrschten? Was geschah derweil im Kleinen im beschaulichen Ochsenhausen und drum herum?
Der Hochsommer 1933 bringt für die Ochsenhauser Jugend einiges an Programm mit sich. Bereits im Juni hatte das „Fest der Jugend“mit Sportwettkämpfen, in teils militärischem Charakter der einzelnen Sportarten – beispielsweise Kleinkaliberschießen und Gepäckmarsch – einen ersten Höhepunkt gebildet; ein erster Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer „wehrhaften Jugend“.
Am 21. Juli berichtet der RottumBote dann erstmals ausführlich über die Inhalte eines Heimabends der Ochsenhauser Hitlerjugend (HJ):
„Beim gestrigen Heimabend der HJ hielt der Propagandaleiter Max Kaspar einen Vortrag über den Krieg. Der Vortrag war sehr interessant und zeigte wie der Krieg ein furchtbar schweres Handwerk ist. Wenn also unser Führer Adolf Hitler den Frieden will, so ist er ein echter Kriegsmann. Keiner von den damaligen Teilnehmern [Anm.: am 1. Weltkrieg] wünscht, dass die Jugend in den Krieg ziehen muss. Die NSDAP will keinen Kampf, sondern die Welt überzeugen, dass es auch ohne denselben geht. In den Schulen sei damals vernachlässigt worden zu erklären, was unsere Väter in den Schlachten bei Tannenberg, Somme, Skagerrak, in den Masurischen Seen usw. vollbracht haben. […] Es war ein schweres Scheiden, doch jeder setzte sein Leben ein für Volk und Vaterland. Saget den andern, heute hat der Mann das Recht und die Pflicht, seine Kraft dem Dienste fürs Vaterland zu geben. Hitlerjugend heißt, den Geist aufzunehmen, den jene Männer hatten. Die Toten waren die Saat, die Lebendigen die Ernte und wir sollen die Früchte mit nach Hause nehmen. Die Toten, welche ruhen in Frankreich, in den Tiefen der Nordund Ostsee, im Kaukasus, in der Türkei, sie sind im Geiste bei uns. Hindenburg wird zu den größten Feldherren gehören. Er zog zusammen mit Ludendorff als Generalleutnant an die Ostfront. Und dieser ruhmgekrönte Generalfeldmarschall hat sich jetzt zusammengetan mit Adolf Hitler, dem einfachen Feldsoldaten, um miteinander das geliebte deutsche Vaterland zu neuer Größe und einer ruhmvollen Zukunft zu führen. Hitler habe sich als einfacher Frontsoldat durch den Geist der Frontsoldaten so weit heraufgeschafft und jetzt hat es sich schon gezeigt, dass die braune Front die Rettung vor dem Bolschewismus gewesen ist. Ein dreifaches Siegheil auf den hochverehrten Reichskanzler war der Schluss des sehr interessanten Vortrags.“
Im ganzen Deutschen Reich gab es einmal wöchentlich solche Heimabende der 14- bis 18-jährigen Jungen der Hitlerjugend, deren Mitgliedschaft 1933 zwar noch freiwillig, jedoch durch das Verbot anderer Jugendverbände bald konkurrenzlos war. Auch das Jungvolk (zehn bis 14jährige Jungen), die Jungmädel (zehn bis 14-jährige Mädchen) und Bund Deutscher Mädel (BDM)Gruppen (14- bis 18-Jährige) trafen sich regelmäßig. Das Ochsenhauser Beispiel vom 21. Juli 1933 zeigt, worum es dabei häufig ging: die propagandistische Beeinflussung der Jugend. Obwohl der Propagandaleiter behauptet, dass Hitler und die NSDAP den Frieden wollen, wird er nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, „seine Kraft dem Dienste fürs Vaterland“– also dem Wehrdienst – zu geben. Die Verbindung zwischen dem „Kriegshelden“Reichspräsident Hindenburg, der Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, und Hitler als dem „einfachen
Feldsoldaten“klingt ebenso kriegsverherrlichend wie die Bezeichnung der Gefallenen als „Saat“. Nach dem Prinzip „Jugend führt Jugend“vermittelten an den Heimabenden ältere Jugendliche den Jüngeren NS-Werte wie Gehorsam, Kameradschaft, körperliche und geistige Zähigkeit – alles Bausteine, um die Jugendlichen zu angehenden Soldaten zu formen.
Außerdem hörte man während der Heimabende auch gemeinsam eigens für die Jugend produzierte Radiosendungen und es wurden Aktivitäten vorbereitet. Die Ochsenhauser Hitlerjungen durften beispielsweise im Sommer 1933 ein Zeltlager auf der Heinrichsburg bei Eberhardzell veranstalten, über das der Rottum-Bote am 22. August 1933 berichtete:
„Am vergangenen Sonntag unternahm die hiesige Hitlerjugend eine Fahrt auf die Heinrichsburg. Abends 6 Uhr ging es bei sonnigem Wetter vorbei an grünen Wiesen und schattigen Wäldern nach Eberhardzell. Von hier aus musste der Weg zu Fuß zurückgelegt werden. Oben auf der Heinrichsburg angekommen, wurde sofort das Lager aufgeschlagen mit anschließender Ruhepause und Nachtessen. Am hell brennenden Lagerfeuer wurden noch einige Lieder gesungen und dann verkündeten drei Schüsse die Nachtruhe. Alles schlief und es war totenstill, als am Morgen um 4 Uhr ein Gewitter von Westen herüberzog. Die tiefschwarze Nacht wurde von Blitzen durchzuckt und der Donner brummte sein Lied dazu. Doch unsere braunen Jungens ließen sich nicht erschrecken und schliefen ruhig weiter. Sonntag morgen um halb 6 Uhr war Wecken mit anschließender Morgengymnastik, hernach gründliche Waschung. Dann wurde der Kakao abgekocht, der hier aber viel besser schmeckte als zu Hause. Um 8 Uhr war Antreten zum Gottesdienst nach Eberhardzell, jeder musste seine Christenpflicht erfüllen. Nachher war Vesperpause, wobei auch mehrere Spiele gemacht wurden. Während derselben kamen ganz unerwartet der Oberamtsführer Kölle und der HJ-Sportwart Müller aus Biberach an. Unter ihrer Leitung wurde die Morgengymnastik noch einmal gründlich wiederholt. Um halb 1 Uhr wurde das Mittagessen gefasst, es gab grüne Erbsensuppe. Nach Beendigung desselben wurde das Lager abgebrochen. Um halb 3 Uhr erfolgte die Abfahrt zum Neuweiher, wo noch ein frisches Bad genommen wurde. Dann ging es froh der Heimat zu.“
Selbst wenn 1933 noch nicht die große Mehrheit der Ochsenhauser Jugendlichen in der Hitlerjugend war, hat sich das bei solch werbewirksamer Berichterstattung über die Aktivitäten und Abenteuer der „braunen Jungens“und bestimmt auch durch Mundpropaganda sowie Gruppendruck sicherlich schnell geändert. Dadurch, dass der Propagandaleiter, der Oberamtsführer und der HJ-Sportwart sich beim Heimabend beziehungsweise beim Zeltlager für die HJ Zeit nahmen, dürften sich überdies viele Jugendliche aufgewertet gefühlt haben.
Am Beispiel der Ochsenhauser HJ zeigt sich indes deutlich, wie ganzheitlich die totalitäre Diktatur des Hitler-Regimes die Jugend vereinnahmt und zum Mitmachen verführt. Schon früh wird sie durch attraktive Aktionen in die NS-Jugendorganisationen gelockt, in Uniformen gesteckt und mit Propaganda beschallt. Die eigentlichen Hintergedanken bei alledem – die politische Indoktrinierung und die Vorbereitung der Jugendlichen auf einen neuen Krieg – schwingt im Hintergrund ständig mit und wird durch die scheinbare Aufwertung der Jugendlichen und die gemeinsamen Spiele und Abenteuer in der Hitlerjugend allenfalls teilweise kaschiert.
Aus heutiger Perspektive scheint es oft schwer nachvollziehbar, wie es geschehen konnte, dass so viele Deutsche die Hitler-Diktatur so blindlings unterstützten. Warum viele junge Menschen dies taten, lässt sich jedoch besser verstehen, wenn man in ein paar 88 Jahre alten, vergilbten Ausgaben des RottumBoten vom Juli und August 1933 schmökert.