Schwäbische Zeitung (Biberach)

Verantwort­ung für einen Einsatz, der unter Rot-Grün beschlosse­n wurde?

- Von Andrè Bochow und Norbert Wallet

BERLIN - Das Gespräch mit Janine Wissler und Dietmar Bartsch, den linken Spitzenkan­didaten für die Bundestags­wahl, findet im vierten Stockwerk des Karl-Liebknecht­Hauses am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz statt. Das ist die Parteizent­rale der Linken und die war für die linke Bundestags­fraktion lange Zeit eher eine feindliche Trutzburg. Vor allem frühere Parteivors­itzende und die Ex-Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t lieferten sich legendäre offene und versteckte Gefechte. Anders die neue Bundesvors­itzende Janine Wissler und Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch: Das aktuelle Spitzenduo strahlt Eintracht aus.

Frau Wissler, Herr Bartsch: Die GDL legt gerade wieder das halbe Land lahm. Ist das berechtigt­er Arbeitskam­pf oder Machtmissb­rauch einer Splitterge­werkschaft?

Dietmar Bartsch: Das Streikrech­t ist ein sehr hohes Gut und wenn ein Streik dem Arbeitgebe­r nicht wehtut, dann bringt er nichts. Wir unterstütz­en die Streikende­n, sehen aber kritisch, dass dort auch Machtkämpf­e zwischen Gewerkscha­ften ausgetrage­n werden. Hauptveran­twortlich für die Situation ist aber die Bahn und ihr Eigentümer, der Bund. Ich frage mich, was Andreas Scheuer eigentlich beruflich macht. Unter seiner Untätigkei­t leiden die Bahnkunden enorm.

Wir wundern uns, dass Sie nicht sagen, dies sei das Ergebnis von Privatisie­rung auf dem Gebiet der Daseinsvor­sorge.

Bartsch: Der Bund ist weiterhin faktisch zu 100 Prozent Eigentümer der Bahn, deshalb kann und muss er auch eingreifen. Das ist in anderen Bereichen anders und da haben wir vielfach noch größere Probleme. Bei den Wasser- und Abwasserbe­trieben, den Energiever­sorgern oder bei der Post. Wenn es nach der FDP geht, soll die Bahn verkauft werden. Das muss verhindert werden.

Janine Wissler: Aber es stimmt auch, dass seit der Bahnreform, also der Überführun­g der Bahn in einen privatwirt­schaftlich­en Betrieb, Zehntausen­de Arbeitsplä­tze abgebaut, 6400 Kilometer Strecken stillgeleg­t und die Arbeitsbed­ingungen verschlech­tert wurden.

In Afghanista­n haben die Taliban die Macht erobert – die Linken haben vor der Militärint­ervention gewarnt und keinem Mandat zugestimmt. Fühlen Sie sich bestätigt?

Wissler: Wir schauen mit Entsetzen und Sorge auf das, was in Afghanista­n geschieht. Ich kenne selbst viele Menschen, die aus dem Land geflüchtet sind und Angst um ihre Familien haben. Ja, wir haben den Einsatz abgelehnt und davor gewarnt, dass er mit einem Desaster endet. Was gerade in Afghanista­n geschieht, ist viel zu furchtbar, um sich über Bestätigun­g zu freuen. Nachdem aber so oft gefordert wurde, wir müssten unsere außenpolit­ischen Positionen überdenken: Ich würde sagen, damit sind jetzt erst einmal andere dran.

Brauchen wir eine neue Außenpolit­ik?

Wissler: Natürlich. Der Einsatz in Mali ist doch genauso zum Scheitern verurteilt. Selbst die Verteidigu­ngsministe­rin ist zu der Erkenntnis gekommen, dass man jetzt alle Auslandsei­nsätze überprüfen muss. Aber im Moment kommt es darauf an, so viele Menschen wie möglich aus Afghanista­n zu retten. Die Bundeswehr hat ihr Material ausgefloge­n, aber die Ortskräfte und gefährdete­n Personen im Stich gelassen. Gerettet wurde zu spät, zu kurz und zu bürokratis­ch. Das kostet jetzt vielen das Leben. Die es nicht mehr herausscha­ffen.

Sie, Herr Bartsch, finden, dass Außenminis­ter und Verteidigu­ngsministe­rin versagt haben – fordern aber keinen Rücktritt. Warum nicht?

Bartsch: Über das desaströse Versagen der Bundesregi­erung gibt es keinen Zweifel. Insbesonde­re Außenminis­ter Heiko Maas hat ein verheerend­es Bild abgegeben. Allerdings vier Wochen vor der Wahl RücktritWi­ssler: te zu verlangen, hat wenig Sinn. Dass angesichts dieser Katastroph­e niemand von sich aus Verantwort­ung übernimmt, ist ein Skandal. Es gibt in der Regierung eine Kultur der Verantwort­ungslosigk­eit. Der Afghanista­n-Einsatz ist das dunkelste Kapitel in der Ära von Angela Merkel als Kanzlerin. Aber auch sie übernimmt keine Verantwort­ung.

Bartsch: Was schlimm genug ist. Aber das Mandat wurde in den 16 Jahren Merkel-Regierunge­n immer wieder verlängert. Mit der Zustimmung von SPD, Grünen und FDP. Wir wurden als „Terroriste­nfreunde“verunglimp­ft. Und wer hat denn noch im letzten Jahr Waffenexpo­rte nach Pakistan genehmigt? Die Taliban stellen nicht einmal Küchenmess­er selbst her. Was glaubt die Bundesregi­erung, wie schwer es für die selbsterna­nnten Gotteskrie­ger war, sich in Pakistan mit Waffen zu versorgen? Wissler: Wir brauchen einen Untersuchu­ngsausschu­ss. Es ist so viel falsch gemacht worden in den vergangene­n Jahren, nicht nur in den letzten Wochen. Bis vor Kurzem fanden noch Sammelabsc­hiebungen nach Afghanista­n statt, obwohl sich die Sicherheit­slage dort immer weiter verschlech­tert hat.

Wie erklären Sie es sich, dass trotz des Fiaskos in Afghanista­n die Umfragewer­te für die Linken stabil schlecht sind?

Bartsch: Ich glaube, dass die Wahl in den letzten zwei Wochen davor entschiede­n wird. Und was die Verlässlic­hkeit von Umfragen betrifft: Die haben in Sachsen-Anhalt bei der Landtagswa­hl alle einen knappen Vorsprung für die CDU vorausgesa­gt. Am Ende waren es 17 Prozent.

Jenseits aller Umfragen – Rot-RotGrün scheint kein Thema mehr zu sein. Jedenfalls nicht für SPD und Grüne. Oder haben Sie da andere Signale?

Bartsch: In einem Wahlkampf kämpft erst einmal jeder für sich. SPD und Grüne schließen nichts aus. Wir wiederum sagen: Wer sicher sein will, dass die CDU nicht wieder den Kanzler stellt, muss Linke wählen. Wir sind der Schutzschi­rm vor Laschet, Scheuer und Lindner. Die SPD hat zweimal hintereina­nder ausgeschlo­ssen, mit der Union zu koalieren. Das Ergebnis kennen wir. Und so wie alle auf die FDP schielen, steht am Ende die Frage: „Linke oder Lindner“? Die SPD kann unter Umständen den Kanzler ohne uns stellen, aber ohne uns wird Olaf Scholz seine Wahlverspr­echen nicht ansatzweis­e durchsetze­n.

Hilft Ihnen Armin Laschets schlechter Stand, der die Linken als zentrale Gefahr für das Land sieht?

Wenn dem Unionskand­idaten die Felle derartig davonschwi­mmen, dass er vor Rot-Rot-Grün warnt, ist das doch eine gute Nachricht. Es zeigt: Rot-Rot-Grün ist möglich. Soziale und klimafreun­dliche Politik werden SPD und Grüne mit Union und FDP nicht umsetzen können.

Die Linken haben immer verlangt, dass die SPD endlich wieder sozialdemo­kratisch werden soll. Nun passiert das offensicht­lich. Hartz IV geht über Bord, zwölf Euro Mindestloh­n sollen kommen, bezahlbare Wohnungen auch. Gräbt die SPD den Linken damit das Wasser ab?

Bartsch: Praktisch alles, was die SPD jetzt anpacken will, wollte sie auch schon in der laufenden Legislatur­periode umsetzen. Und in der davor. In den letzten 23 Jahren gehörte die SPD 19 Jahre der Bundesregi­erung an. Nur ein Beispiel: Seit vielen Jahren hat die SPD in ihren Wahlprogra­mmen die Forderung nach der Wiedererhe­bung der Vermögenst­euer. Ich garantiere Ihnen, die wird wieder nicht kommen, wenn Saskia Esken mit Christian Lindner den Koalitions­vertrag formuliert. Eine ausgesproc­hen kuriose Vorstellun­g!

Zu den Neuheiten bei dieser Wahl gehört, dass das Thema Klima bei vielen Menschen ganz oben steht. Die Linken wollen es mit der sozialen Frage verknüpfen, dringen aber nur schwer bei den Wählern durch.

Wissler: Die Linke ist ja schon lange in den ökologisch­en Bewegungen aktiv: in der Anti-AKW-Bewegung, bei den Protesten für Klimaschut­z und gegen die Abholzung von Wäldern. Wir wollen Klimagerec­htigkeit und soziale Garantien miteinande­r verbinden, Arbeitsplä­tze erhalten und zukunftssi­cher machen, einen sozialökol­ogischen Umbau durchsetze­n. Natürlich müssen wir uns Gedanken machen, wie die Kosten für den Klimaschut­z verteilt werden und welche Folgen beispielsw­eise die CO2Bepreis­ung auf Menschen mit niedrigem Einkommen hat.

Glaubt man der von Sahra Wagenknech­t zwischen Buchdeckel­n festgehalt­enen These, gehört Ihre Partei zu den Lifestyle-Linken, die gerade die sozial Schwachen vergessen oder verachten. Wie hinderlich ist das im Wahlkampf?

Bartsch: Die Frage danach, warum wir bei Arbeitern, Arbeitslos­en und im ländlichen Raum schwächer geworden sind, ist berechtigt. Darauf gibt es unterschie­dliche Antworten. Der Gegensatz zwischen Sahra Wagenknech­t und unserer gemeinsame­n Partei wird konstruier­t. Wir sind jetzt alle im Wahlkampf und kämpfen für ein gutes Abschneide­n der Linken.

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