Schwäbische Zeitung (Biberach)
In Trauer uneins
20 Jahre nach dem 11. September sorgt sogar das Gedenken für Unfrieden in den USA
WASHINGTON - Die passende Metapher für den inneren Zustand der USA am Jahrestag der Terroranschläge lieferte Donald Trump. Statt an einer der drei Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, moderierte der abgewählte Präsident einen Boxkampf. Für eine „obszön“hohe Geldsumme, wie er sagt. Die Show am Abend des 11. September war nach einer Runde vorüber, als Evander Holyfield nach einem gezielten Haken Vitor Belforts zu Boden sank.
Für Trump blieb genug Zeit, seine Co-Kommentierung mit Sohn Donald Junior zu nutzen, um selber ein paar Tiefschläge gegen Joe Biden zu setzen, der ihn bei den Wahlen im November 2020 mit einem Vorsprung von sieben Millionen Stimmen geschlagen hatte. Der Ausgang der Wahlen sei ein wenig so, wie der von Boxkämpfen. „Sie können manipuliert sein.“
Die Antwort auf diese Sticheleien erteilte ein anderer Republikaner, George. W. Bush, der in Shankesville im US-Bundesstaat Pennsylvania zu den Angehörigen der Opfer des Flugs 93 der United Airlines sprach, der hier in einen Acker stürzte. Ohne den Widerstand der Passagiere wäre die Maschine vermutlich in den Kongress eingeschlagen. Das Gebäude, das Anhänger des abgewählten Präsidenten am 6. Januar gestürmt hatten.
„Es gibt wenig kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen gewalttätigen Extremisten im Ausland und gewalttätigen Extremisten hier zu Hause“, zog Bush eine direkte Verbindungslinie zwischen den Terroristen der Al-Kaida und den Aufständischen. „Aber in ihrer Verachtung für Pluralismus, in ihrer Missachtung menschlichen Lebens, in ihrer Entschlossenheit, unsere nationalen Symbole zu beschmutzen, sind sie alle Kinder des gleichen verdorbenen Geistes.“Amerika habe die Pflicht, „sich ihnen entgegenzustellen“.
Joe Biden, der an allen drei Gedenkveranstaltungen teilgenommen hatte, lobte die Ausführungen Bushs, in denen dieser einen Teil der Anhänger Trumps zu Extremisten abgestempelt hatte: „Eine hervorragende Rede.“
Dabei machen viele Bush dafür verantwortlich, die Einheit der Amerikaner nach dem 11. September nicht genutzt zu haben, die Nation dauerhaft zu versöhnen. Umfragen rund um den Jahrestag bestätigen, dass mehr Amerikaner davon überzeugt sind, dass ihr Land eine schlechte Entwicklung genommen habe als umgekehrt.
Gordon Felt, dessen Bruder Edward zu den Helden von Flug 93 gehörte, stellte in seiner kurzen Rede auf dem Acker von Shankesville die Gretchenfrage. „Waren wir ihrer Aufopferung würdig?“Seine Zweifel klingen zwischen den Fragen heraus, die er an sein Land richtet. „Verhalten wir uns als Einzelpersonen, Gemeinschaften und als Land so, dass diejenigen, die so viel geopfert und so hart gekämpft haben, Stolz darauf wären, was wir heute sind?“
Zwanzig Jahre nach dem 11. September können sich die Amerikaner, angesichts einer anderen Katastrophe mit bereits mehr als 650 000 Toten, nicht einmal darauf verständigen, sich gegenseitig durch das Tragen von Masken oder Covid-19-Impfungen zu schützen.
Gemeinsamkeit findet sich allein in den Tränen und der Trauer der Angehörigen, die Politiker bei der Gedenkveranstaltung an Ground Zero an die Seitenlinie verbannt haben. In einem über zwei Jahrzehnte eingeübten Ritual verlasen sie über vier Stunden die Namen der rund 3000 Toten. Unterlegt von sechs Glockenschlägen, die an die entscheidenden Momente vom Einschlag des ersten Flugzeugs in den Nordturm bis zu dessen Einsturz erinnern.
Präsident Biden nahm sich am Jahrestag bewusst zurück und sprach bei keiner der drei Veranstaltungen. „Einheit macht uns zu den Menschen, die wir sind“, appellierte er stattdessen in einer kurzen Videobotschaft an die Nation. Sie sei leider „zu selten“geworden. „Einheit ist unsere größte Stärke.“
Diese Botschaft wollten vor 20 Jahren auch Republikaner und Demokraten in die Welt senden, als sie spontan auf die Stufen vor dem Kapitol traten und „God Save America“anstimmten. Wenn die Führer des US-Kongresses an diesem Montag an diesen Ort zurückkehren, hat sich vieles geändert. Sie werden nur noch für einen kurzen Moment auf den Pausenknopf, bevor sie ihre bitteren politischen Grabenkämpfe fortsetzen.