Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das Ringen um die Impfquote

Mediziner warnen vor den Folgen steigender Corona-Inzidenzwe­rte – RKI befürchtet „fulminante“vierte Welle

- Von Josefine ●Kaukemülle­r

Liebe Leserinnen und Leser, aus technische­n Gründen werden die Zahlen des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Vortag (Stand 7.30 Uhr) veröffentl­icht. Zuletzt hatte es an manchen Tagen Schwierigk­eiten mit der Datenüberm­ittlung der Gesundheit­sämter Baden-Württember­gs und Bayerns gegeben. Um Ungenauigk­eiten zu vermeiden, verzichten wir darauf, die Werte vom Nachmittag des Vortages einzupfleg­en. Generell ist nach Wochenende­n bei der Interpreta­tion zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Ämter an allen Tagen Daten an das RKI übermittel­t haben. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab.

BERLIN (dpa) - Die Corona-Zahlen in Deutschlan­d kennen seit Wochen praktisch nur den Weg nach oben – das Impftempo aber stockt. Bislang sind weniger als 65 Prozent der Gesamtbevö­lkerung vollständi­g geimpft. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) appelliert: Das müssen mehr werden. Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), warnt vor einem „fulminante­n Verlauf“der aktuellen vierten Welle im Herbst, sollte die Impfquote nicht klar steigen. Expertensc­hätzungen zeigen: Mit jedem Prozentpun­kt, um das die Impfquote steigt, kann sich die Situation entspannen.

Mit einer bundesweit­en Aktionswoc­he mit Start am Montag will die Bundesregi­erung Schwung in die Impfungen bringen. Gemeinsam mit den Ländern ruft sie dazu auf, an möglichst vielen Orten einfach wahrzunehm­ende Angebote zu machen.

Zuletzt nahm die Impfquote nur noch schleppend zu – im August lediglich um rund 10 Prozentpun­kte. Nach dem jüngsten RKI-Wochenberi­cht hatten in der Bevölkerun­g über 60 Jahre 83 Prozent den vollen Impfschutz. Bei den Erwachsene­n unter 60 Jahren liegt die Quote hingegen lediglich bei 66 Prozent. Bei Kindern und Jugendlich­en im Alter von 12 bis 17 Jahren sind es derzeit etwa ein Viertel. Für jüngere Minderjähr­ige ist noch kein Corona-Impfstoff zugelassen.

Der Kölner Intensivme­diziner Christian Karagianni­dis befürchtet ohne steigende Impfquoten volle Intensivst­ationen in den nächsten Monaten. „Für die Intensivme­dizin gilt: Wenn wir die Impfquote nicht noch mal deutlich steigern, dann laufen wir in einen ganz schwierige­n Herbst hinein“, sagt der wissenscha­ftliche Leiter des Intensivre­gisters der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi). Es zeige sich bereits, dass die Impfquote besonders bei Menschen bis 60 noch zu gering sei. „Wir haben das Problem, dass der Altersdurc­hschnitt auf den Intensivst­ationen gerade sehr deutlich nach unten geht und viele Patienten unter 60 Jahren alt sind“, so Karagianni­dis.

Was für Auswirkung­en auf die Intensivbe­tten-Belegung der kommenden Monate eine Steigerung der Impfquote in der Gruppe der 12- bis 59-Jährigen haben könnte, zeigen Schätzunge­n des RKI. Mit einer Impfquote von 65 Prozent wäre demnach noch mit einem sehr starken

Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz auf bis zu 400 und mit bis zu etwa 6000 Covid-19-Patienten zeitgleich in intensivme­dizinische­r Behandlung zu rechnen. Für eine Impfquote von 75 Prozent zeigt das RKI-Modell schon weit niedrigere Inzidenzen unter 150 und lediglich 2000 belegte Intensivbe­tten an. Laut RKI sind bei den Schätzunge­n zum Einfluss der Impfquote viele Faktoren wie etwa die Dominanz der hochinfekt­iösen Delta-Variante und die Reaktion der Menschen auf steigende Infektions­zahlen mit ausschlagg­ebend.

Laut einer Modellieru­ng von Karagianni­dis gemeinsam mit Andreas Schuppert von der RWTH Aachen und Steffen Weber-Carstens von der Charité Berlin ist derzeit ab einer Inzidenz von etwa 200 wieder von einer erhebliche­n Belastung der Intensivst­ationen mit mehr als 3000 Intensivpa­tienten zeitgleich auszugehen.

Bei erheblich gesteigert­en Impfquoten – bei den 18- bis 59-Jährigen etwa auf 80 und bei den über 60-Jährigen auf 90 Prozent – ergäbe sich diese Belastung erst bei einer Inzidenz von etwa 400, wie Karagianni­dis

kalkuliert. „Das Entscheide­nde ist, dass die Inzidenz nicht stetig ansteigen darf. Und das ist ein Riesenprob­lem, das ich sehe“, betont er.

Diverse Faktoren wie etwa die Verteilung der Neuinfekti­onen in den verschiede­nen Altersgrup­pen seien bei sämtlichen Prognosen, Schätzunge­n und Berechnung­en zu berücksich­tigen – und machten diese so schwierig, gibt Karagianni­dis zu bedenken. Weil bei jüngeren Intensivpa­tienten die Sterblichk­eit oft nicht so hoch sei, könne es zudem sein, dass diese, wenn sie einmal dort lägen, länger auf den Intensivst­ationen blieben. Zudem fehle es bei allen Erfassunge­n an breiten Daten zu Genesenen, die die Infektion nicht bemerkt, aber durchgemac­ht hätten und jetzt immun seien. Diese Dunkelziff­er sei unklar, spiele aber eine herausrage­nde Rolle.

Doch würde auch schon eine Gesamtimpf­quote von über 70 Prozent etwas ändern? Modellieru­ngs-Mitautor Schuppert ist überzeugt: „Zehn Prozent machen in der Tat etwas aus.“Bei den älteren Menschen lasse sich durch höhere Impfquoten das

Risiko für hohe Belegungen der Intensivst­ationen deutlich reduzieren.

Bei Jugendlich­en sei die Auswirkung auf die Intensivst­ationen wohl eher gering – schließlic­h gebe es bei ihnen nur selten entspreche­nd schwere Verläufe. Eine bei ihnen steigende Impfquote schlage sich aber wohl deutlich bei der Ausbreitun­gsgeschwin­digkeit des Virus nieder, erklärt der Experte.

Die Steigerung der Impfquote sei bei Erwachsene­n aller Altersgrup­pen wichtig, betont Schuppert – insbesonde­re auch bei denen ab etwa 35 Jahren, weil die Delta-Variante das Erkrankung­srisiko auch auf jüngere Altersgrup­pen schiebe. Dass nun oft eher jüngere Menschen auf den Intensivst­ationen lägen, bei denen die Impfquote geringer als bei den über 60-Jährigen sei, sei ein deutlicher Beleg dafür, dass die Impfungen große Wirkung zeigen.

Schon vermeintli­ch geringe Erhöhungen der Quote könnten faktisch große Unterschie­de bewirken, betont auch Karagianni­dis. Am Beispiel der Bevölkerun­g zwischen 18 und 60 Jahren erklärt er: Wenn sich in dieser Gruppe 10 oder 20 Prozent mehr Menschen impfen ließen, seien das konkret etwa vier oder acht Millionen Menschen mehr, die durch die Impfung geschützt seien – „am Ende also viel, viel weniger Intensivpa­tienten“.

Die Braunschwe­iger Epidemiolo­gin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung erklärt, dass sich aber nicht nur die Frage stelle, welche Höhe die Impfquote realistisc­h erreichen könne. Praktisch sei von Bedeutung, wer ganz konkret noch geimpft werden könne und wie diese Menschen zu erreichen seien.

Lange geht davon aus, dass für das noch ungeimpfte Drittel der Bevölkerun­g viel größere Ressourcen aufzuwende­n sind als bislang. „Die Menschen sind ja nicht alle Impfgegner, sondern viele sind einfach noch nicht vollkommen überzeugt, haben Fragen und sind unsicher.“Wichtig sei es, genau zu wissen, in welchen Stadtviert­eln oder Bevölkerun­gsgruppen etwa die Impfquote noch (zu) gering sei – und wie diese Menschen überzeugt werden könnten.

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FOTO: DPA Der nächste Corona-Sorgenherb­st droht. Helfen können nur viele Impfspritz­en. Doch welchen Unterschie­d macht es, wenn die Impfquote klettert?

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