Schwäbische Zeitung (Biberach)
Das Ringen um die Impfquote
Mediziner warnen vor den Folgen steigender Corona-Inzidenzwerte – RKI befürchtet „fulminante“vierte Welle
Liebe Leserinnen und Leser, aus technischen Gründen werden die Zahlen des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Vortag (Stand 7.30 Uhr) veröffentlicht. Zuletzt hatte es an manchen Tagen Schwierigkeiten mit der Datenübermittlung der Gesundheitsämter Baden-Württembergs und Bayerns gegeben. Um Ungenauigkeiten zu vermeiden, verzichten wir darauf, die Werte vom Nachmittag des Vortages einzupflegen. Generell ist nach Wochenenden bei der Interpretation zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Ämter an allen Tagen Daten an das RKI übermittelt haben. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab.
BERLIN (dpa) - Die Corona-Zahlen in Deutschland kennen seit Wochen praktisch nur den Weg nach oben – das Impftempo aber stockt. Bislang sind weniger als 65 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) appelliert: Das müssen mehr werden. Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), warnt vor einem „fulminanten Verlauf“der aktuellen vierten Welle im Herbst, sollte die Impfquote nicht klar steigen. Expertenschätzungen zeigen: Mit jedem Prozentpunkt, um das die Impfquote steigt, kann sich die Situation entspannen.
Mit einer bundesweiten Aktionswoche mit Start am Montag will die Bundesregierung Schwung in die Impfungen bringen. Gemeinsam mit den Ländern ruft sie dazu auf, an möglichst vielen Orten einfach wahrzunehmende Angebote zu machen.
Zuletzt nahm die Impfquote nur noch schleppend zu – im August lediglich um rund 10 Prozentpunkte. Nach dem jüngsten RKI-Wochenbericht hatten in der Bevölkerung über 60 Jahre 83 Prozent den vollen Impfschutz. Bei den Erwachsenen unter 60 Jahren liegt die Quote hingegen lediglich bei 66 Prozent. Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren sind es derzeit etwa ein Viertel. Für jüngere Minderjährige ist noch kein Corona-Impfstoff zugelassen.
Der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis befürchtet ohne steigende Impfquoten volle Intensivstationen in den nächsten Monaten. „Für die Intensivmedizin gilt: Wenn wir die Impfquote nicht noch mal deutlich steigern, dann laufen wir in einen ganz schwierigen Herbst hinein“, sagt der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Es zeige sich bereits, dass die Impfquote besonders bei Menschen bis 60 noch zu gering sei. „Wir haben das Problem, dass der Altersdurchschnitt auf den Intensivstationen gerade sehr deutlich nach unten geht und viele Patienten unter 60 Jahren alt sind“, so Karagiannidis.
Was für Auswirkungen auf die Intensivbetten-Belegung der kommenden Monate eine Steigerung der Impfquote in der Gruppe der 12- bis 59-Jährigen haben könnte, zeigen Schätzungen des RKI. Mit einer Impfquote von 65 Prozent wäre demnach noch mit einem sehr starken
Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz auf bis zu 400 und mit bis zu etwa 6000 Covid-19-Patienten zeitgleich in intensivmedizinischer Behandlung zu rechnen. Für eine Impfquote von 75 Prozent zeigt das RKI-Modell schon weit niedrigere Inzidenzen unter 150 und lediglich 2000 belegte Intensivbetten an. Laut RKI sind bei den Schätzungen zum Einfluss der Impfquote viele Faktoren wie etwa die Dominanz der hochinfektiösen Delta-Variante und die Reaktion der Menschen auf steigende Infektionszahlen mit ausschlaggebend.
Laut einer Modellierung von Karagiannidis gemeinsam mit Andreas Schuppert von der RWTH Aachen und Steffen Weber-Carstens von der Charité Berlin ist derzeit ab einer Inzidenz von etwa 200 wieder von einer erheblichen Belastung der Intensivstationen mit mehr als 3000 Intensivpatienten zeitgleich auszugehen.
Bei erheblich gesteigerten Impfquoten – bei den 18- bis 59-Jährigen etwa auf 80 und bei den über 60-Jährigen auf 90 Prozent – ergäbe sich diese Belastung erst bei einer Inzidenz von etwa 400, wie Karagiannidis
kalkuliert. „Das Entscheidende ist, dass die Inzidenz nicht stetig ansteigen darf. Und das ist ein Riesenproblem, das ich sehe“, betont er.
Diverse Faktoren wie etwa die Verteilung der Neuinfektionen in den verschiedenen Altersgruppen seien bei sämtlichen Prognosen, Schätzungen und Berechnungen zu berücksichtigen – und machten diese so schwierig, gibt Karagiannidis zu bedenken. Weil bei jüngeren Intensivpatienten die Sterblichkeit oft nicht so hoch sei, könne es zudem sein, dass diese, wenn sie einmal dort lägen, länger auf den Intensivstationen blieben. Zudem fehle es bei allen Erfassungen an breiten Daten zu Genesenen, die die Infektion nicht bemerkt, aber durchgemacht hätten und jetzt immun seien. Diese Dunkelziffer sei unklar, spiele aber eine herausragende Rolle.
Doch würde auch schon eine Gesamtimpfquote von über 70 Prozent etwas ändern? Modellierungs-Mitautor Schuppert ist überzeugt: „Zehn Prozent machen in der Tat etwas aus.“Bei den älteren Menschen lasse sich durch höhere Impfquoten das
Risiko für hohe Belegungen der Intensivstationen deutlich reduzieren.
Bei Jugendlichen sei die Auswirkung auf die Intensivstationen wohl eher gering – schließlich gebe es bei ihnen nur selten entsprechend schwere Verläufe. Eine bei ihnen steigende Impfquote schlage sich aber wohl deutlich bei der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus nieder, erklärt der Experte.
Die Steigerung der Impfquote sei bei Erwachsenen aller Altersgruppen wichtig, betont Schuppert – insbesondere auch bei denen ab etwa 35 Jahren, weil die Delta-Variante das Erkrankungsrisiko auch auf jüngere Altersgruppen schiebe. Dass nun oft eher jüngere Menschen auf den Intensivstationen lägen, bei denen die Impfquote geringer als bei den über 60-Jährigen sei, sei ein deutlicher Beleg dafür, dass die Impfungen große Wirkung zeigen.
Schon vermeintlich geringe Erhöhungen der Quote könnten faktisch große Unterschiede bewirken, betont auch Karagiannidis. Am Beispiel der Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren erklärt er: Wenn sich in dieser Gruppe 10 oder 20 Prozent mehr Menschen impfen ließen, seien das konkret etwa vier oder acht Millionen Menschen mehr, die durch die Impfung geschützt seien – „am Ende also viel, viel weniger Intensivpatienten“.
Die Braunschweiger Epidemiologin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung erklärt, dass sich aber nicht nur die Frage stelle, welche Höhe die Impfquote realistisch erreichen könne. Praktisch sei von Bedeutung, wer ganz konkret noch geimpft werden könne und wie diese Menschen zu erreichen seien.
Lange geht davon aus, dass für das noch ungeimpfte Drittel der Bevölkerung viel größere Ressourcen aufzuwenden sind als bislang. „Die Menschen sind ja nicht alle Impfgegner, sondern viele sind einfach noch nicht vollkommen überzeugt, haben Fragen und sind unsicher.“Wichtig sei es, genau zu wissen, in welchen Stadtvierteln oder Bevölkerungsgruppen etwa die Impfquote noch (zu) gering sei – und wie diese Menschen überzeugt werden könnten.