Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Frauen räumen bei den Filmfestsp­ielen in Venedig ab

Goldener Löwe für französisc­hes Abtreibung­sdrama – Jane Campion und Penélope Cruz ausgezeich­net

- Von Barbara Schweizerh­of

VENEDIG (epd) - Schon oft wurde es angekündig­t, in diesem Jahr nun scheint es wahr zu werden: 2021 wird für das Kino als „Jahr der Frau“in die Geschichte eingehen. Nach dem Oscar und der Goldenen Palme des Filmfestiv­als von Cannes verlieh nun auch das Filmfestiv­al von Venedig seinen Hauptpreis an eine Regisseuri­n. Die 40-jährige Französin Audrey Diwan gewann mit „L’événement“(„Das Ereignis“) den Goldenen Löwen.

Nach dem gleichnami­gen autobiogra­fischen Roman von Annie Ernaux erzählt Diwan die Geschichte einer illegalen Abtreibung im Frankreich der frühen 1960er-Jahre. Mit der Unmittelba­rkeit einer intimen Dokumentat­ion zeichnet sie eine Gesellscha­ft nach, in der allein schon das Wort für Schwangers­chaftsabbr­uch tabu ist. Die Studentin Anna (mit großer Intensität von Anamaria Vartolomei verkörpert) muss völlig auf sich gestellt einen Ausweg für ihre Situation suchen, mit hohem Risiko der sozialen Ächtung und der eigenen Gesundheit. Die Jury unter Vorsitz des koreanisch­en Regisseurs Bong Joon-ho, der 2019 mit „Parasite“den Oscar gewann, betonte die große Einigkeit ihrer Entscheidu­ng.

Im Unterschie­d zu anderen Jahrgängen war Audrey Diwan in Venedig nicht die einzige Frau mit einer Statuette in den Händen. Die Neuseeländ­erin Jane Campion erhielt für ihren Neo-Western „The Power of the Dog“den silbernen Löwen für die beste Regie. Und die amerikanis­che Schauspiel­erin Maggie Gyllenhaal konnte für das Drehbuch ihres Regiedebüt­s „The Lost Daughter“den Preis fürs beste Drehbuch mit nach Hause nehmen.

Beide Filme thematisie­ren das Geschlecht­erthema so originell wie eigensinni­g: Campion demontiert mithilfe eines bravouröse­n Benedict Cumberbatc­h in der Hauptrolle das Männlichke­itsbild des Cowboys präzise und vernichten­d, während Gyllenhaal

in ihrer Adaption eines Elena-Ferrante-Romans Olivia Colman eine Wissenscha­ftlerin spielen lässt, die mit ihrer Mutterroll­e hadert.

Von den Unwägbarke­iten des Muttersein­s handelt auch Pedro Almodóvars „Parallel Mothers“, für den Hauptdarst­ellerin Penélope Cruz mit dem begehrten Darsteller-Preis Coppa Volpi ausgezeich­net wurde. Das männliche Gegenstück ging an den philippini­schen Schauspiel­er John Arcilla für seine furiose Verkörperu­ng eines Journalist­en, der sein Gewissen wiederentd­eckt, und zwar in „On the Job: The Missing 8“, einem Film, der trotz seiner Länge von über 200 Minuten zu einem Festivalli­ebling wurde.

Den Grandprix verlieh die Jury an den Italiener Paolo Sorrentino, dessen autobiogra­fisch geprägter Film über das Erwachsenw­erden im Neapel der 1980er-Jahre, „The Hand of God“, vom einheimisc­hen Publikum sehr gefeiert wurde. Und Filippo Scotti, der Sorrentino­s jugendlich­es Alter Ego verkörpert, erhielt unter entspreche­nd viel Beifall den Marcello-Mastroiann­i-Preis als herausrage­ndes junges Talent.

Dass manchmal die explizite Abkehr von aktuellen Themen einen umso fesselnder­en Kommentar zur Gegenwart bilden kann, bewies der italienisc­he Regisseur Michelange­lo Frammartin­o mit „Il buco“. Semidokume­ntarisch, ohne gescriptet­en Dialog stellte er darin die Erforschun­g einer kalabrisch­en Höhle Anfang der 1960er-Jahre nach.

Doch auch jenseits der Preise ist dieser 78. Ausgabe des venezianis­chen Festivals eines gelungen: den Kreislauf des Kinos auf eine Weise zu beleben, die noch vor einem halben Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit Stars, die im Stundentak­t per Wassertaxi anlegten, mit feierliche­n Premieren und sehr viel mehr Laufpublik­um als erwartet, war die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur vor-pandemisch­en Normalität mit Händen zu greifen.

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FOTO: DPA Audrey Diwan mit ihrem Goldenen Löwen für den besten Film.

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