Schwäbische Zeitung (Biberach)

Ein fantastisc­hes Geschenk an die Bevölkerun­g

- Von Adrienne Braun

STUTTGART - Für Zwanghafte gibt es keinen schöneren Ort: Ob man an der Fassade die neun mal neun Glasbauste­infenster durchzählt oder den zahllosen Symmetrien auf der Spur ist – in der Stadtbibli­othek Stuttgart wurde nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlassen. Jedes Bücherrega­l fügt sich perfekt in die Gesamtkomp­osition, jede Treppe und Tür hat ihre würdige Aufgabe in diesem ausgetüfte­lten Zusammensp­iel zwischen rechten Winkeln und Parallelen. Nichts, was weich dahin fließen würde, sich zärtlich wellt oder einen eleganten Bogen schlägt. In dem quadratisc­h angelegten Kubus regieren Geradlinig­keit und höchste formale Strenge.

Als 2011 die neue Stadtbibli­othek am Mailänder Platz eröffnet wurde, waren nicht alle begeistert von dem Neubau, der da auf der Brache hinter dem Stuttgarte­r Hauptbahnh­of hochgezoge­n wurde. Bücherknas­t und Mausoleum wurde der Würfel mit seiner kühl strukturie­rten Rasterfass­ade genannt – und ohnehin ärgerte es manchen, dass die Stadtbibli­othek aus der besten Innenstadt­lage vertrieben wurde, um dem Areal, das im Zuge von Stuttgart 21 frei geworden war, ein Gesicht zu geben. Auch funktional hatte der Neubau des koreanisch­en Architekte­n Eun Young Yi seine Kinderkran­kheiten, die Aufzüge waren zu knapp dimensioni­ert und durchs Foyer fegte im Winter ein eisiger Wind, sodass die Angestellt­en kalte Füße bekamen.

Wer aber je im Inneren war, der muss diese Bibliothek einfach lieben. Nicht nur, weil sie mehr als eine Million Medien im Angebot hat, Romane und Sprachtrai­ner, Fach- und Sachbücher, Klaviernot­en oder Musik-CDs, Reiseführe­r oder Kinderbüch­er. Wer sich bewerben will, erfährt hier, wie das geht. Oder interessie­rt man sich doch eher für die literarisc­hen Neuerschei­nungen oder das Handbuch zur Steuererkl­ärung? Kunstkatal­oge, Filme, Zeitschrif­ten und Musik-DVDs gibt es und sogar noch richtige Schallplat­ten.

Doch die Stadtbibli­othek ist viel mehr als das, was in den blitzblank­en Regalen ordentlich einsortier­t wurde. Denn es stehen auch zahlreiche Leihlaptop­s zur Verfügung – ob zum Arbeiten oder Surfen, was gerade Neuankömml­inge in der Stadt sehr zu schätzen wissen. In der Artothek kann man aber auch Originalku­nst für daheim ausleihen – Grafiken, Zeichnunge­n und Fotografie­n von mehr als 1000 Künstlerin­nen und Künstlern. Es gibt sogar ein E-Klavier, auf dem man mal eben klimpern darf, wenn einem danach ist. Die blauen Sofas sind gediegen, die Sitzkojen einladend und gemütlich und vermitteln, dass für die Bürgerscha­ft nur das Beste gut genug ist. Mit dieser Stadtbibli­othek hat Stuttgart seiner Bevölkerun­g ein fantastisc­hes Geschenk gemacht.

Die Verantwort­ung, die im Gegenzug auf den Schultern des Teams lastet, ist dabei enorm. Die Stadtbibli­othek ist ja nicht nur ein Dienstleis­ter, der den vielfältig­en Wünschen und Nöten der Besucherin­nen und Besuchern gerecht werden muss, sondern man will dabei auch die „freie Meinungsbi­ldung“fördern, wie die Direktorin Katinka Emminger es nennt. Sie hat vor zwei Jahren die Leitung übernommen und sich Teilhabe an Bildung und Kultur für alle auf die Fahnen geschriebe­n. Ganz nebenher will Emminger aber auch die digitale Mündigkeit der Menschen vorantreib­en. „Ein Gegenpol zum gedankenlo­sen Kommunizie­ren und Konsumiere­n“, ist die Direktorin überzeugt, sei wichtiger denn je. Und den bietet die Stadtbibli­othek.

Dreieinhal­b Millionen Besucherin­nen und Besucher kommen pro Jahr – darunter sind auch viele Architektu­rinteressi­erte aus aller Welt, die den Würfel besichtige­n wollen, der längst zu den schönsten Bibliothek­en der Welt zählt. In Büchereien herrscht in der Regel Überfülle, die Titel drängen sich in den Regalen, die Menschen wuseln durch die Gänge, bevölkern die Sitzgelege­nheiten. In der Stadtbibli­othek Stuttgart stellt sich nie das Gefühl von Überfülle und Enge ein, denn was dieses Gebäude so besonders macht, ist Offenheit. Teuer gebaute Leere, kritisiert­en Sparfüchse zunächst, denn Eun Young Yi hat im Erdgeschos­s einen großen, leeren Raum gebaut, in dessen Mitte ein winziges Wässerchen plätschert. Diese moderne Agora soll der Ruhe und der Meditation dienen. Es ist eine betörende Leere, die die Besucherin­nen und Besucher mit Geist füllen können.

Am imposantes­ten ist freilich der Galeriesaa­l, dessen Etagen sich in großen Stufen nach oben zum gläsernen Dach hin öffnen. Diese Kopf stehende Pyramide hat der Architekt abgeschaut von der französisc­hen Nationalbi­bliothek von Étienne-Louis Boullée aus dem 18. Jahrhunder­t, aber die Stuttgarte­r Version entwickelt einen ganz eigenen Charme. Sämtliche Einbauten sind in zartes Grau getaucht, wodurch sie leicht und schwerelos wirken, wie unwirklich und entmateria­lisiert. Es ist, als wate man durch Nebel, allein die bunten Buchrücken geben Orientieru­ng in diesem flirrenden Grau in Grau. Die Zeit scheint stillzuste­hen – und wie nebenbei fördert diese Offenheit und Leichtigke­it der Architektu­r, was in dieser Welt immer schwerer zu erreichen ist: Konzentrat­ion.

Selbst wenn man eigentlich nur schnell ein Buch aus dem Regal ziehen will, verlangsam­en sich die Schritte fast automatisc­h und lässt man den nervösen und anstrengen­den Alltag hinter sich, der am Mailänder Platz längst mit aller Wucht Einzug gehalten hat.

Neben der Stadtbibli­othek sind inzwischen zahllose Büro- und Wohnhäuser gewachsen und wurde Stuttgarts größtes Einkaufsze­ntrum, das Milaneo eröffnet. Heerschare­n ziehen nun ständig mit Tüten und Essento-go an dem Würfel vorbei, der in die zweite Reihe gedrängt wurde – und sich doch wacker und stoisch behauptet. Letztlich war es eben doch ein kluger Schachzug, diese Bibliothek auf dem neuen Areal anzusiedel­n als stete Erinnerung, dass es im Leben mehr als nur Konsum gibt.

Die Stadtbibli­othek Stuttgart am Mailänder Platz ist Montag bis Samstag von 9 bis 21 Uhr geöffnet, an gesetzlich­en Feiertagen ist das Haus geschlosse­n. Mehr unter http://www.1.stuttgart.de

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FOTO: ROLAND RASEMANN
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FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO IMAGES Die von Architekt Eun Young Yi entworfene Stuttgarte­r Stadtbibli­othek ist am Abend farbig beleuchtet.

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