Schwäbische Zeitung (Biberach)
Prestigeerfolg und Pflichtsieg
In Leipzig geht der FC Bayern den nächsten Schritt beim Versuch, Automatismen und neue Impulse optimal zu mischen
LEIPZIG - In der Nachspielzeit, soeben war das 4:1 für den FC Bayern München gefallen, glich der Rasen der Red Bull Arena von Leipzig einem bunten, chaotischen Schlachtengemälde. Die weiß-rot gekleideten Leipziger ließen die Köpfe hängen, die Hände auf die Oberschenkel gestemmt. Während Bayerns Torschütze Eric-Maxim Choupo-Moting und seine Gratulanten vor dem Tor der Gastgeber auf den Abseitscheck aus dem Kölner Videokeller warteten, lag Leroy Sané in der eigenen Hälfte am Boden – von Krämpfen geplagt.
Da kam Torhüter Manuel Neuer aus seinem Kasten gesprintet und warf sich in seinem Textmarker-orangenen Trikot auf den Flügelstürmer im schwarzen Auswärtsdress des Meisters. Sie scherzten und herzten sich. Die gute Laune vertrieb kurzfristig die Schmerzen aus Sanés ausgepumptem Körper. Vier zu eins – beim
Ein Gefühl macht sich breit in Fußballdeutschland. Es ist ein Gefühl der Eintönigkeit. Nicht, dass man etwas anderes als die zehnte Meisterschaft nacheinander des FC Bayern München im Vorfeld der Saison wirklich erwartet hätte, doch ist da irgendwo, ganz, ganz am Boden, in der untersten Schublade des Fußball-Gefühlsschrankes dann immer die Hoffnung (zumindest bei allen Nicht-Bayern-Anhängern), dass es dann doch irgendwann passiert, der Branchenprimus vom allzu lang besetzten Thron gestoßen wird und auf der höchsten Stufe ein anderer Verein Platz nimmt und sich die Krone aufsetzt. Doch ist diese Hoffnung beim Schreiber dieser Zeilen seit diesem Wochenende schon wieder dahin. Da braucht nun auch niemand ankommen und vom vierten Spieltag erzählen, von dem, was noch alles passieren kann, und was man sonst so an Scheinargumenten herausholt, wenn man versucht, das Unabwendbare dann doch noch nicht akzeptieren zu wollen.
Geschafft hat es der Stern des Südens durch einen ganz alten Trick, mit dem er schon in den 1990er-Jahren einige Titel auf unrühmliche Weise erkaufte – die direkte Konkurrenz schwächen. Wer es vergessen hat, RB Leipzig ist amtierender Vizemeister, also Bayernjäger Nummer 1, und seit diesem Sommer Trainer Julian Nagelsmann, Abwehrchef Dayot Upamecano, Kapitän Marcel Sabitzer und eine Handvoll CoTrainer an den FC Bayern los geworden. Das hat Bayern auf dem Feld eventuell leicht besser gemacht, RB aber definitiv um einiges schlechter. Nicht umsonst formulierte RB-Mittelfeldspieler Tyler Adams gegenüber „The Athletic“: „Nichts – nichts
Vizemeister. Ein Prestigeerfolg, aber auch ein Pflichtsieg.
Denn: Erst holte man in diesem Sommer RB-Trainer Julian Nagelsmann, der Zug um Zug vier Assistenten mitbrachte. Zuvor hatte Bayern Leipzigs Abwehrchef Dayot Upamecano verpflichtet, Ende August als Nachzügler noch RB-Kapitän Marcel Sabitzer. Peinlich, peinlich wäre also eine Pleite des bullenmäßig verstärkten Abonnementsmeisters gewesen. Daher konnte man sich im Münchner Lager ein Lachen nicht verkneifen.
Weil es so deutlich war. Dennoch sagte Nagelsmann 112 Tage nach seinem letzten Spiel als RB-Coach korrekterweise: „Wir waren in diesem hektischen und offenen Spiel nicht den Drei-Tore-Unterschied besser.“
Er und auch Sabitzer waren bei ihrer Rückkehr mit einem gellenden Pfeifkonzert eines Großteils der 34 000 erlaubten Zuschauer (Bundesliga-Rekord in dieser Saison) empfangen worden. Nagelsmann hatte auf einen milderen Empfang gehofft,
– macht mich wütender, als dass alle deutschen Clubs an sie (den FC Bayern, Anm. d. Red.) verkaufen. Es verwirrt mich, Mann. Es ist wirklich zum Kotzen.“Recht hat er – und spricht wohl vielen Fußballfans aus der Seele. Denn so gestaltete sich das Spitzenspiel, wie es beinahe jedes der jüngeren Vergangenheit tat: Der Herausforderer reist mit großer meinte aber cool: „Emotionen gehören dazu, deshalb ist das okay.“Ein süßer Sieg war es trotzdem für den 34-Jährigen, der emotionalste und bedeutendste nach der holprigen Vorbereitung sowie dem missglückten Start mit dem 1:1 in Gladbach. Nun steht Nagelsmann nach dem dritten Ligaerfolg in Folge (12:3 Tore) bestens da.
Die Bayern im September 2021: alte Dominanz, neue Spielphilosophie. Doch die Umsetzung passt Nagelsmann noch nicht, er forscht nach der perfekten Mischung aus Automatismen und (seinen) neuen Impulsen. „Wir haben noch Entwicklungsaufgaben, daher bin ich nicht ganz so frohlockend“, meinte der gebürtige Bayer in seiner alten Wahlheimat Leipzig. „Ich will, dass wir unseren Matchplan weiterentwickeln und nicht nur auf Altbewährtes setzen“, sagte der Nachfolger von Erfolgscoach Hansi Flick und verwies auf dessen Titel (es waren sieben in 19 Monaten Amtszeit). Es sei für einen neuen Trainer
Hoffnung zum Gipfel und mit einer mächtigen Packung nach Hause. RBTrainer Jesse Marsch sprach von einer „großen Niederlage“und einem „schweren Moment für die Gruppe“. „Vielleicht ist es nicht fair, dass wir jetzt so große Tests haben wie gegen Bayern und auswärts bei Manchester. Vielleicht sind wir noch nicht bereit für so große Herausforderungen“,
„eine Gratwanderung, zu überlegen: Wie viel Neues bringst du rein? Auf wie viel Bewährtes setzt du?“Denn das „stiftet immer ein bisschen Unruhe bei den Spielern“, so Nagelsmann, für den das 4:1 jedoch „ein Schritt in die richtige Richtung“war, „was Struktur und Positionsspiel betrifft“. Er schloss mit: „Wir können es besser spielen.“Eine deutliche Ansage nach dem Auftritt, der „das erste Ausrufezeichen der Saison“(Vorstandsboss Oliver Kahn) gewesen ist.
Was der Rest der Liga als Drohung auffassen sollte. Die bereits sieben Punkte Vorsprung auf RB seien zwar „wichtig“, so Nagelsmann, „weil wir die Qualität von RB kennen und sie noch viel punkten werden“. Außerdem stehe „aktuell noch eine Mannschaft über uns“. Der VfL Wolfsburg mit der makellosen Bilanz von vier Siegen aus vier Spielen.
Die nächste, große Aufgabe wartet bereits am Dienstag (21 Uhr/Amazon Prime live) mit dem Auftaktspiel in der Champions-League-Gruppenphase
sagte Marsch. Nicht fair? Ja, vielleicht, doch was ist schon fair, wenn es um den FC Bayern geht?
Aber wer bleibt, wenn Leipzig schon jetzt aus dem Titelrennen ausscheidet? Also: ernsthaft? Und nein, wir reden nun nicht vom Tabellenführer aus Wolfsburg. Auch ohne die Champions-League-Belastung anzuführen, kann man eindeutig argumentieren: Es ist der VfL Wolfsburg (!), und wir haben nicht mehr 2009. Sie werden also irgendwann einbrechen und die Tabellenführung an die Münchner Titelbuben abgeben.
So kommen wir zu Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund. Furiose Offensivteams, die nicht umsonst beim direkten Duell zu begeistern wussten. Einiges spräche sogar für den Meister BVB: Denn kommt dessen Offensive der Extraklasse ins Rollen, wird es für jeden Gegner ungemütlich. Dazu ist die Bank in der Tiefe stärker besetzt als die des Branchenprimus. Die Moral stimmt ebenfalls. Bei den frechen und vor dem Tor eiskalten Leverkusenern geriet der Pokalsieger dreimal in Rückstand und gewann trotzdem. Aber: Selbst für eine offensiv ausgerichtete Mannschaft spielt Dortmund unausgewogen. Die Gegner mögen nicht viele Chancen erhalten, diese sind wegen der großen Abstände in der Defensive aber oft hochkarätig. Neun Gegentore sind bislang die Folge, Bayern kassierte vier. BVB-Trainer Marco Rose hatte „viel zu bereden“, und das sollte er dringend tun. Denn die englischen Wochen beginnen erst. Rückstände aufzuholen, geht an die Substanz. Und auf lange Sicht auf Kosten von Punkten. Es darf den Bayern also beinahe schon zu La Décima gratuliert werden.
beim FC Barcelona. Außenstürmer Serge Gnabry (kurz vor der Pause mit Hexenschuss ausgewechselt) ist fraglich, der mit Adduktorenproblemen vorsorglich nach einer Stunde geschonte Torjäger Robert Lewandowski dürfte fit werden.
Und wenn schon – man hat ja Supertalent Jamal Musiala. Mit seinen ersten fünf Ballkontakten machte der 18-jährige Joker als Ersatz für Gnabry ein Tor und eine Vorlage. Für Thomas Müller war „Jamal der absolute Zauberer des Spiels“. Der 31-jährige Weltmeister von 2014 meinte auf die Frage nach dem Generationenwechsel, ob Musiala eines Tages Müllers Stammplatz bei Bayern und in der Nationalmannschaft übernehme: „Joa, irgendwann kann er ihn haben.“Denn: „Das Gesamtpaket in seinem Alter macht ihn besonders.“
Der Gefeierte selbst blieb wie immer bescheiden, meinte: „Es hat ganz viel Spaß gemacht. Wir trainieren solche Situationen wie bei meinem Tor. Da denkt man nicht viel.“