Schwäbische Zeitung (Biberach)
Warten auf Winterkorn
Betrugsprozess gegen vier VW-Manager soll „Dieselgate“-Schuldfrage klären – Ex-Chef nicht verhandlungsfähig
BRAUNSCHWEIG (dpa) - Selten zuvor hat ein Wirtschaftsskandal in Deutschland so großen finanziellen Schaden angerichtet und das Vertrauen vieler Verbraucher in eine Branche so ins Wanken gebracht wie die Abgaskrise. Nach jahrelanger Vorbereitung und mehrfacher Verschiebung soll am Donnerstag jetzt der Strafprozess gegen mehrere frühere Manager und Ingenieure von Volkswagen beginnen.
Die Vorwürfe wiegen schwer: Es geht um gewerbs- und bandenmäßigen Betrug mit manipulierter Software in Millionen Autos. Diese stießen auf der Straße ein Vielfaches der erlaubten Werte für schädliche Stickoxide (NOx) aus. Bessere Reinigungstechnik wäre teurer gewesen.
Einer der Angeklagten ist der frühere Konzernchef Martin Winterkorn. Er muss zum Auftakt aber noch nicht erscheinen, das Braunschweiger Landgericht trennte seinen Verfahrensteil ab. Grund für die erneute Vertagung sind gesundheitliche Probleme Winterkorns, der gerade eine Hüftoperation hatte. Wegen des Zeitdrucks soll die Hauptverhandlung gegen vier andere Führungskräfte jedoch wie geplant eröffnet werden. Es handelt sich um einen ehemaligen Entwicklungschef der VW-Kernmarke sowie drei hohe Mitarbeiter aus der Motor- und Antriebstechnik.
Fast auf den Tag sechs Jahre ist es her, dass „Dieselgate“in den USA aufflog. Die Umweltbehörde CARB hatte den Stein ins Rollen gebracht, als sie am 18. September 2015 einen Brief an die VW-Vertretungen im Land schickte. Darin rüffelten die Aufseher Europas größten Autobauer – damals mit offensiver Werbung für den „sauberen Diesel“unterwegs – wegen einer Nichteinhaltung von Emissionsregeln, die richtiggestellt werden müsse. Schon vorher hatte es Hinweise von Wissenschaftlern auf Unregelmäßigkeiten im Abgassystem gegeben. Doch Verantwortliche von VW nahmen Anfragen auch bei Fahrzeugrückrufen nicht sonderlich ernst.
Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Winterkorn trat zurück, sichtlich aufgewühlt verabschiedete er sich per Video von der Belegschaft. Er sei sich „keines Fehlverhaltens bewusst“, sagte der bestbezahlte Manager aller Dax-Konzerne. Verstrickungen in den Betrug mit gefälschten NOx-Werten verneinte er auch später. Sein Anwalt Felix Dörr erklärte: „Herr Winterkorn hatte keine frühzeitige Kenntnis vom gezielten Einsatz einer verbotenen Motorsteuerungssoftware.“Auch vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags beteuerte der seine Unschuld.
Strafverfolger sehen das anders. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sichtete riesige Datensätze, vernahm viele Zeugen, tauschte sich mit US-Kollegen aus. Ergebnis vor gut zwei Jahren: die Betrugsanklage, die das Landgericht nun verhandelt. Jenseits des Atlantiks gab VW neben Milliarden-Vergleichen mit Kunden auch ein Schuldanerkenntnis gegenüber dem Justizministerium ab. Die Rolle einzelner Manager ist ein Zusatzthema, es wurde sogar Haftbefehl gegen Winterkorn erlassen.
Hierzulande ist die juristische Aufarbeitung bei der Entschädigung von Verbrauchern oder Investoren schon fortgeschritten. Bei den strafrelevanten Bezügen steht sie noch am Anfang. Das Braunschweiger Gericht, das wegen des erwarteten Publikumsinteresses die komplette Stadthalle anmietete, richtet sich auf ein sehr langes Verfahren ein. Der vorläufige Terminplan erstreckt sich bis in den Frühling 2023.
Bereits die Vorbereitung hatte sich gezogen. Zweimal musste der Beginn aufgrund der unsicheren Corona-Lage verschoben werden. Das Gericht ließ die Staatsanwaltschaft zudem nachsitzen, einige Punkte der Anklage wollte es noch näher erläutert und begründet haben. Später indes verschärfte es die Anschuldigungen sogar: Es bestehe der Verdacht, dass Winterkorn und die übrigen Angeklagten den Einsatz der AbgasTäuschungsprogramme ermöglichten oder jedenfalls tolerierten.
Ob Winterkorn an allen wichtigen Verhandlungstagen im Saal sein kann, wird sich zeigen – unabhängig von der Frage, wann genau gegen ihn eröffnet wird. Nach Informationen aus seinem Umfeld wäre eine regelmäßige Anwesenheit derzeit schwierig. Die Kammer holte zum Zustand des inzwischen 74-Jährigen auch medizinische Gutachten ein.
Vorige Woche erklärte sie: „Eine hinreichend belastbare Prognose über den Zeitpunkt, zu dem der Angeklagte Prof. Dr. Winterkorn wieder vollständig oder zumindest eingeschränkt verhandlungsfähig sein wird, ist zurzeit nicht möglich.“Der Manager lebt in München, er müsste ständig nach Braunschweig pendeln oder in den zentralen Wochen möglicherweise in der Stadt bleiben. Die Staatsanwaltschaft legte am Oberlandesgericht Beschwerde gegen das Ausgliedern der Sitzungen mit Winterkorn ein – eine Entscheidung darüber dürfte noch etwas dauern.
Die Aussprache mit dem alten Arbeitgeber scheint derweil beendet. Im Juni schloss VW nach internen Untersuchungen einen Schadenersatz-Deal mit Winterkorn und Haftpflichtversicherern. Es geht um Verstöße gegen das Aktienrecht – die beauftragten Juristen fanden Hinweise auf Fahrlässigkeit, nicht aber auf Vorsatz. Winterkorn zahlt an VW 11,2 Millionen Euro. Die Gesamtsumme beträgt über 280 Millionen Euro, sie enthält unter anderem auch Ansprüche an Ex-Audi-Chef Rupert Stadler.
Dieses Vorgehen rief Kritik hervor. Die Grünen in Niedersachsen etwa bemängelten, dass die SPD/CDULandesregierung als Vertreterin des zweitgrößten VW-Anteilseigners die Einigung mitgetragen hat, ehe das Landgericht in die öffentliche Beweisaufnahme einsteigen konnte. Der Beschluss der Hauptversammlung dazu wird mittlerweile angefochten.
So oder so dürfte sich vieles im Betrugsprozess um den ominösen „Schadenstisch“mehrerer Manager am 27. Juli 2015 drehen. Dabei war neben Winterkorn auch der heutige Konzernchef Herbert Diess, damals frisch von BMW gekommen. Gegen ihn sowie Chefkontrolleur Hans Dieter Pötsch gab es Ermittlungen wegen mutmaßlicher Marktmanipulation, das Verfahren wurde aber gegen Zahlung von neun Millionen Euro eingestellt.
Bei solchen Krisenrunden besprachen die Führungskräfte Probleme, die ihnen aus aller Welt zu Ohren kamen. Wurde die Betrugssoftware direkt thematisiert – und wenn ja, wie detailliert? Warnten Ingenieure? Der VW-Aufsichtsrat glaubt, dass „Winterkorn seine Sorgfaltspflichten verletzt hat, indem er es in der Zeit ab dem 27. Juli 2015 unterließ, die Hintergründe des Einsatzes unzulässiger Softwarefunktionen in 2,0-Liter-TDI-Dieselmotoren, die 2009 bis 2015 im nordamerikanischen Markt vertrieben wurden, unverzüglich und umfassend aufzuklären“.
Vor dem Treffen jedoch sollen nach bisheriger offizieller Darstellung maximal Mitarbeiter unter der höchsten Management-Ebene Einzelheiten gekannt haben. Winterkorn selbst hatte erklärt, man habe ihn erst kurzfristig ins Bild gesetzt. Der Informationsfluss im Unternehmen sei mangelhaft gewesen. Die Berliner Staatsanwaltschaft zog Teile ähnlicher Äußerungen im Untersuchungsausschuss des Bundestags in Zweifel und klagte Winterkorn wegen Falschaussage an. Dieser Punkt wanderte ebenso nach Braunschweig und soll dort zusätzlich geprüft werden.
Und auch manche Zeitzeugen zeichnen ein anderes Bild. Der ExChef des VW-Umweltbüros in den USA, Oliver Schmidt, den der Konzern dann in Gespräche mit den dortigen Behörden schickte, erklärte dem NDR: „In diesen Gesprächen habe ich nicht alles gesagt, was ich wusste. Es gab ein Anweisungsblatt, es gab ein Skript, was ich sagen sollte, was ich nicht sagen sollte.“Vor allem habe er den Begriff einer Software zur Täuschung der Abgaswerte („defeat device“) nicht nennen dürfen. „Das ist mir dann ja letztendlich zum Verhängnis geworden.“Das FBI ließ Schmidt verhaften, er saß gut drei Jahre im Gefängnis. VW nahm hierzu keine Stellung. Schmidt erwartet sich von dem Prozess nun Klarheit. „Ich würde es nicht nur an der Person Winterkorn festmachen“, betonte er. Es gehe auch um „die Ebene darunter: Was haben die gewusst?“
War das Verhalten der damaligen VW-Spitze schlicht achtlos-riskant oder ein absichtliches Vertuschen und Unterlassen? Diese Frage dürfte größeren Raum vor Gericht einnehmen. Wer was am „Schadenstisch“wozu äußerte, blieb bislang unter Verschluss. Sicher scheint: Diejenigen, die Bescheid wussten und Verantwortung trugen, entschieden sich wohl, den US-Behörden zunächst nur scheibchen- und teilweise offenzulegen, was geschehen war. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ging gegen weitere Führungskräfte von VW sowie eines Zulieferers vor, etwa wegen Beihilfe zum Betrug und zu mittelbarer Falschbeurkundung. Es gibt Anklagen und Ermittlungen gegen Dutzende weitere Beschäftigte.
Volkswagen will aus der Krise lernen. Die Leitung installierte neue Regeln für gute Unternehmensführung, ein Whistleblower-System soll bei der Aufdeckung möglicher Missetaten helfen. Aufgrund der gesamten „Dieselthematik“, wie die Affäre intern zuweilen immer noch etwas verharmlosend heißt, sind bisher mehr als 32 Milliarden Euro allein an juristischen Kosten angefallen oder zurückgestellt worden.
Darüber hinaus haben die Verkäufe in mittlerer Frist wenig unter den Kriseneffekten gelitten. Der Konzern verdient weiter gut, Diess setzt fast alles auf E-Mobilität. Aber auch bei anderen Autobauern mehrten sich im Gefolge des VW-Skandals Verdachtsmomente zur Abgasreinigung.