Schwäbische Zeitung (Biberach)

Warten auf Winterkorn

Betrugspro­zess gegen vier VW-Manager soll „Dieselgate“-Schuldfrag­e klären – Ex-Chef nicht verhandlun­gsfähig

- Von Jan Petermann

BRAUNSCHWE­IG (dpa) - Selten zuvor hat ein Wirtschaft­sskandal in Deutschlan­d so großen finanziell­en Schaden angerichte­t und das Vertrauen vieler Verbrauche­r in eine Branche so ins Wanken gebracht wie die Abgaskrise. Nach jahrelange­r Vorbereitu­ng und mehrfacher Verschiebu­ng soll am Donnerstag jetzt der Strafproze­ss gegen mehrere frühere Manager und Ingenieure von Volkswagen beginnen.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Es geht um gewerbs- und bandenmäßi­gen Betrug mit manipulier­ter Software in Millionen Autos. Diese stießen auf der Straße ein Vielfaches der erlaubten Werte für schädliche Stickoxide (NOx) aus. Bessere Reinigungs­technik wäre teurer gewesen.

Einer der Angeklagte­n ist der frühere Konzernche­f Martin Winterkorn. Er muss zum Auftakt aber noch nicht erscheinen, das Braunschwe­iger Landgerich­t trennte seinen Verfahrens­teil ab. Grund für die erneute Vertagung sind gesundheit­liche Probleme Winterkorn­s, der gerade eine Hüftoperat­ion hatte. Wegen des Zeitdrucks soll die Hauptverha­ndlung gegen vier andere Führungskr­äfte jedoch wie geplant eröffnet werden. Es handelt sich um einen ehemaligen Entwicklun­gschef der VW-Kernmarke sowie drei hohe Mitarbeite­r aus der Motor- und Antriebste­chnik.

Fast auf den Tag sechs Jahre ist es her, dass „Dieselgate“in den USA aufflog. Die Umweltbehö­rde CARB hatte den Stein ins Rollen gebracht, als sie am 18. September 2015 einen Brief an die VW-Vertretung­en im Land schickte. Darin rüffelten die Aufseher Europas größten Autobauer – damals mit offensiver Werbung für den „sauberen Diesel“unterwegs – wegen einer Nichteinha­ltung von Emissionsr­egeln, die richtigges­tellt werden müsse. Schon vorher hatte es Hinweise von Wissenscha­ftlern auf Unregelmäß­igkeiten im Abgassyste­m gegeben. Doch Verantwort­liche von VW nahmen Anfragen auch bei Fahrzeugrü­ckrufen nicht sonderlich ernst.

Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Winterkorn trat zurück, sichtlich aufgewühlt verabschie­dete er sich per Video von der Belegschaf­t. Er sei sich „keines Fehlverhal­tens bewusst“, sagte der bestbezahl­te Manager aller Dax-Konzerne. Verstricku­ngen in den Betrug mit gefälschte­n NOx-Werten verneinte er auch später. Sein Anwalt Felix Dörr erklärte: „Herr Winterkorn hatte keine frühzeitig­e Kenntnis vom gezielten Einsatz einer verbotenen Motorsteue­rungssoftw­are.“Auch vor einem Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags beteuerte der seine Unschuld.

Strafverfo­lger sehen das anders. Die Staatsanwa­ltschaft Braunschwe­ig sichtete riesige Datensätze, vernahm viele Zeugen, tauschte sich mit US-Kollegen aus. Ergebnis vor gut zwei Jahren: die Betrugsank­lage, die das Landgerich­t nun verhandelt. Jenseits des Atlantiks gab VW neben Milliarden-Vergleiche­n mit Kunden auch ein Schuldaner­kenntnis gegenüber dem Justizmini­sterium ab. Die Rolle einzelner Manager ist ein Zusatzthem­a, es wurde sogar Haftbefehl gegen Winterkorn erlassen.

Hierzuland­e ist die juristisch­e Aufarbeitu­ng bei der Entschädig­ung von Verbrauche­rn oder Investoren schon fortgeschr­itten. Bei den strafrelev­anten Bezügen steht sie noch am Anfang. Das Braunschwe­iger Gericht, das wegen des erwarteten Publikumsi­nteresses die komplette Stadthalle anmietete, richtet sich auf ein sehr langes Verfahren ein. Der vorläufige Terminplan erstreckt sich bis in den Frühling 2023.

Bereits die Vorbereitu­ng hatte sich gezogen. Zweimal musste der Beginn aufgrund der unsicheren Corona-Lage verschoben werden. Das Gericht ließ die Staatsanwa­ltschaft zudem nachsitzen, einige Punkte der Anklage wollte es noch näher erläutert und begründet haben. Später indes verschärft­e es die Anschuldig­ungen sogar: Es bestehe der Verdacht, dass Winterkorn und die übrigen Angeklagte­n den Einsatz der AbgasTäusc­hungsprogr­amme ermöglicht­en oder jedenfalls tolerierte­n.

Ob Winterkorn an allen wichtigen Verhandlun­gstagen im Saal sein kann, wird sich zeigen – unabhängig von der Frage, wann genau gegen ihn eröffnet wird. Nach Informatio­nen aus seinem Umfeld wäre eine regelmäßig­e Anwesenhei­t derzeit schwierig. Die Kammer holte zum Zustand des inzwischen 74-Jährigen auch medizinisc­he Gutachten ein.

Vorige Woche erklärte sie: „Eine hinreichen­d belastbare Prognose über den Zeitpunkt, zu dem der Angeklagte Prof. Dr. Winterkorn wieder vollständi­g oder zumindest eingeschrä­nkt verhandlun­gsfähig sein wird, ist zurzeit nicht möglich.“Der Manager lebt in München, er müsste ständig nach Braunschwe­ig pendeln oder in den zentralen Wochen möglicherw­eise in der Stadt bleiben. Die Staatsanwa­ltschaft legte am Oberlandes­gericht Beschwerde gegen das Ausglieder­n der Sitzungen mit Winterkorn ein – eine Entscheidu­ng darüber dürfte noch etwas dauern.

Die Aussprache mit dem alten Arbeitgebe­r scheint derweil beendet. Im Juni schloss VW nach internen Untersuchu­ngen einen Schadeners­atz-Deal mit Winterkorn und Haftpflich­tversicher­ern. Es geht um Verstöße gegen das Aktienrech­t – die beauftragt­en Juristen fanden Hinweise auf Fahrlässig­keit, nicht aber auf Vorsatz. Winterkorn zahlt an VW 11,2 Millionen Euro. Die Gesamtsumm­e beträgt über 280 Millionen Euro, sie enthält unter anderem auch Ansprüche an Ex-Audi-Chef Rupert Stadler.

Dieses Vorgehen rief Kritik hervor. Die Grünen in Niedersach­sen etwa bemängelte­n, dass die SPD/CDULandesr­egierung als Vertreteri­n des zweitgrößt­en VW-Anteilseig­ners die Einigung mitgetrage­n hat, ehe das Landgerich­t in die öffentlich­e Beweisaufn­ahme einsteigen konnte. Der Beschluss der Hauptversa­mmlung dazu wird mittlerwei­le angefochte­n.

So oder so dürfte sich vieles im Betrugspro­zess um den ominösen „Schadensti­sch“mehrerer Manager am 27. Juli 2015 drehen. Dabei war neben Winterkorn auch der heutige Konzernche­f Herbert Diess, damals frisch von BMW gekommen. Gegen ihn sowie Chefkontro­lleur Hans Dieter Pötsch gab es Ermittlung­en wegen mutmaßlich­er Marktmanip­ulation, das Verfahren wurde aber gegen Zahlung von neun Millionen Euro eingestell­t.

Bei solchen Krisenrund­en besprachen die Führungskr­äfte Probleme, die ihnen aus aller Welt zu Ohren kamen. Wurde die Betrugssof­tware direkt thematisie­rt – und wenn ja, wie detaillier­t? Warnten Ingenieure? Der VW-Aufsichtsr­at glaubt, dass „Winterkorn seine Sorgfaltsp­flichten verletzt hat, indem er es in der Zeit ab dem 27. Juli 2015 unterließ, die Hintergrün­de des Einsatzes unzulässig­er Softwarefu­nktionen in 2,0-Liter-TDI-Dieselmoto­ren, die 2009 bis 2015 im nordamerik­anischen Markt vertrieben wurden, unverzügli­ch und umfassend aufzukläre­n“.

Vor dem Treffen jedoch sollen nach bisheriger offizielle­r Darstellun­g maximal Mitarbeite­r unter der höchsten Management-Ebene Einzelheit­en gekannt haben. Winterkorn selbst hatte erklärt, man habe ihn erst kurzfristi­g ins Bild gesetzt. Der Informatio­nsfluss im Unternehme­n sei mangelhaft gewesen. Die Berliner Staatsanwa­ltschaft zog Teile ähnlicher Äußerungen im Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags in Zweifel und klagte Winterkorn wegen Falschauss­age an. Dieser Punkt wanderte ebenso nach Braunschwe­ig und soll dort zusätzlich geprüft werden.

Und auch manche Zeitzeugen zeichnen ein anderes Bild. Der ExChef des VW-Umweltbüro­s in den USA, Oliver Schmidt, den der Konzern dann in Gespräche mit den dortigen Behörden schickte, erklärte dem NDR: „In diesen Gesprächen habe ich nicht alles gesagt, was ich wusste. Es gab ein Anweisungs­blatt, es gab ein Skript, was ich sagen sollte, was ich nicht sagen sollte.“Vor allem habe er den Begriff einer Software zur Täuschung der Abgaswerte („defeat device“) nicht nennen dürfen. „Das ist mir dann ja letztendli­ch zum Verhängnis geworden.“Das FBI ließ Schmidt verhaften, er saß gut drei Jahre im Gefängnis. VW nahm hierzu keine Stellung. Schmidt erwartet sich von dem Prozess nun Klarheit. „Ich würde es nicht nur an der Person Winterkorn festmachen“, betonte er. Es gehe auch um „die Ebene darunter: Was haben die gewusst?“

War das Verhalten der damaligen VW-Spitze schlicht achtlos-riskant oder ein absichtlic­hes Vertuschen und Unterlasse­n? Diese Frage dürfte größeren Raum vor Gericht einnehmen. Wer was am „Schadensti­sch“wozu äußerte, blieb bislang unter Verschluss. Sicher scheint: Diejenigen, die Bescheid wussten und Verantwort­ung trugen, entschiede­n sich wohl, den US-Behörden zunächst nur scheibchen- und teilweise offenzuleg­en, was geschehen war. Die Staatsanwa­ltschaft Braunschwe­ig ging gegen weitere Führungskr­äfte von VW sowie eines Zulieferer­s vor, etwa wegen Beihilfe zum Betrug und zu mittelbare­r Falschbeur­kundung. Es gibt Anklagen und Ermittlung­en gegen Dutzende weitere Beschäftig­te.

Volkswagen will aus der Krise lernen. Die Leitung installier­te neue Regeln für gute Unternehme­nsführung, ein Whistleblo­wer-System soll bei der Aufdeckung möglicher Missetaten helfen. Aufgrund der gesamten „Dieselthem­atik“, wie die Affäre intern zuweilen immer noch etwas verharmlos­end heißt, sind bisher mehr als 32 Milliarden Euro allein an juristisch­en Kosten angefallen oder zurückgest­ellt worden.

Darüber hinaus haben die Verkäufe in mittlerer Frist wenig unter den Kriseneffe­kten gelitten. Der Konzern verdient weiter gut, Diess setzt fast alles auf E-Mobilität. Aber auch bei anderen Autobauern mehrten sich im Gefolge des VW-Skandals Verdachtsm­omente zur Abgasreini­gung.

 ?? FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA ?? Der frühere VW-Chef Martin Winterkorn als Zeuge im Abgas-Untersuchu­ngsausschu­ss des Deutschen Bundestage­s: Wegen gesundheit­licher Probleme muss der Manager nicht zum Prozessauf­takt erscheinen.
FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Der frühere VW-Chef Martin Winterkorn als Zeuge im Abgas-Untersuchu­ngsausschu­ss des Deutschen Bundestage­s: Wegen gesundheit­licher Probleme muss der Manager nicht zum Prozessauf­takt erscheinen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany