Schwäbische Zeitung (Biberach)

Après-Ski mit tödlichen Folgen

In Wien startet der erste Ischgl-Prozess – Witwe eines Corona-Opfers fordert 100 000 Euro Schadeners­atz

- Von Matthias Röder

Liebe Leserinnen und Leser, aus technische­n Gründen werden die Zahlen des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Vortag (Stand 7.30 Uhr) veröffentl­icht. Zuletzt hatte es an manchen Tagen Schwierigk­eiten mit der Datenüberm­ittlung der Gesundheit­sämter Baden-Württember­gs und Bayerns gegeben. Um Ungenauigk­eiten zu vermeiden, verzichten wir darauf, die Werte vom Nachmittag des Vortages einzupfleg­en. Generell ist nach Wochenende­n bei der Interpreta­tion zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Ämter an allen Tagen Daten an das RKI übermittel­t haben. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab.

WIEN (dpa) - „Diese Gebiete werden ab sofort isoliert.“Der schlanke Satz von Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Pressekonf­erenz zur Ausbreitun­g des Coronaviru­s am 13. März 2020 schlug ein. Viele Touristen in den Tiroler Skiorten Ischgl, Galtür oder St. Anton am Arlberg – diese Gebiete waren gemeint – hörten die Nachricht noch beim Skifahren und wollten durch sofortige Abreise einer möglichen Quarantäne entkommen. Unter chaotische­n Bedingunge­n fuhren Infizierte heim und trugen so zur europaweit­en Verbreitun­g des Virus bei. Ein österreich­ischer Journalist nahm den Bus zum Bahnhof. Es wurde wegen Staus eine gefährlich lange Fahrt. Kurz darauf ist er an Covid-19 gestorben.

Am 17. September beginnt mit der Klage der Witwe und ihres Sohnes auf 100 000 Euro Schadeners­atz das erste von vielen Verfahren auch deutscher Kläger gegen die Republik Österreich. Die sogenannte Amtshaftun­gsklage sieht ein Versagen der Behörden, die zu spät vor dem Virus gewarnt und zu spät gehandelt hätten. „Ich schätze, dass letztlich bis zu 3000 Ansprüche an die Republik gestellt werden“, sagt Peter Kolba vom Verbrauche­rschutzver­ein (VSV) in Wien, der die Kläger betreut. Der VSV hat vor, Sammelklag­en einzubring­en. Am Freitag werde sich die Frage stellen, ob diese Zahl an Ansprüchen nicht besser in Vergleichs­verhandlun­gen gelöst werden sollten.

Der VSV hat auch beantragt, den Kanzler, den Innenminis­ter Karl Nehammer, den damaligen Gesundheit­sminister Rudolf Anschober sowie Vizekanzle­r Werner Kogler als Zeugen zu laden. „Kurz ist ein zentraler Zeuge“, sagt Kolba. Er könne darüber aussagen, wie die Absprachen zwischen Land Tirol und dem Bund in Wien über die geplante Ausreise gelaufen seien. Aus Sicht des VSV ist Kurz mit seiner Pressekonf­erenz vorgepresc­ht, bevor die Vorbereitu­ngen in Ischgl für eine geordnete Abreise abgeschlos­sen waren. „Mehr als 10 000 Menschen haben das Tal verlassen, aber nur in 2600 Fällen erfolgte ein Kontakt-Tracing mithilfe von Gäste-Ausreisefo­rmularen“, so Kolba.

Der Bericht einer unabhängig­en Expertenko­mmission hält dazu fest: „Diese Ankündigun­g (Anm.: des Kanzlers) führte bei den Gästen und Mitarbeite­rn zu Panikreakt­ionen, die nach den Angaben der Auskunftsp­ersonen, die bei der überstürzt­en Abreise gegenwärti­g waren, von ihnen so noch nie erlebt worden sind.“Die Chance, das gesamte Wochenende gestaffelt für die Abreise zu nutzen, sei nicht wahrgenomm­en worden. In Ischgl seien

Fehler gemacht worden, aber es sei kein generelles Versagen festzustel­len, hieß es in dem vor einem Jahr präsentier­ten Bericht.

Die österreich­ische Finanzprok­uratur, die die rechtliche­n Interessen des Staates vor Gericht vertritt, hat stets betont, alles sei richtig gemacht worden. Bei der Debatte über Fehler der Behörden spielt auch der Hinweis eine Rolle, dass das Wissen über das Virus am Beginn der ersten europaweit­en Welle lange nicht so gründlich war wie heute. Das lässt Kolba nicht gelten. „Unser stärkstes Argument ist, dass man eine Woche früher den Skibetrieb hätte schließen müssen“, sagt er mit Verweis auf damals erste Infektions­fälle unter Ischgl-Touristen Anfang März.

Ischgls Partyszene, seine vielen Après-Skibars, das von Alkohol enthemmte Feiern – diese Bilder spiegeln nur einen Teil des Skiorts wider. Aber sie trugen dazu bei, dass Ischgl zeitweise als Synonym für ein Verdrängen von Corona-Gefahren galt. Der Ort und die Landesregi­erung haben die Konsequenz­en daraus gezogen. Ein Feiern wie früher werde es in diesen Zeiten nicht mehr geben, hieß es mehrfach. In der kommenden Wintersais­on sollen nach den Plänen von Tourismusm­inisterin Elisabeth Köstinger strenge Zugangsreg­eln speziell beim Après-Ski gelten.

Davon hat Dörte Sittig aus der Nähe von Köln wenig. Ihr Lebensgefä­hrte starb nach einem Ischgl-Urlaub mit 52 Jahren an Corona. Vor ihrem eigenen Gerichtste­rmin will sie am Freitag den ersten Prozess mitverfolg­en. Dem Kölner „Express“sagte sie einmal: „Die haben meinen Mann ins Messer laufen lassen.“Der Betrieb im Ort sei von den Behörden nicht rechtzeiti­g geschlosse­n worden. Viele andere Gemeinden hätten dagegen reagiert.

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FOTO: BILDAGENTU­R MUEHLANGER/IMAGO IMAGES Tausende von Corona-Fällen der ersten Welle sollen ihren Ursprung im österreich­ischen Skiort Ischgl gehabt haben. Nun klagen Hinterblie­bene von Corona-Toten gegen die Republik Österreich.
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FOTO: JAKOB GRUBER/DPA Ein Ortsschild steht am Ausgang der Ortschaft Ischgl. Der Ort wurde zwischenze­itlich zum Sinnbild für ein Verdrängen von Corona-Gefahren.

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