Schwäbische Zeitung (Biberach)

Risiken und Nebenwirku­ngen der Liebe

Peter Stamms neuer Roman „Das Archiv der Gefühle“

- Von Hans-Dieter Fronz

Die Helden von Peter Stamms Romanen fallen aus dem Rahmen. Fast ausnahmslo­s schreibt der Schweizer über ungewöhnli­che bis exzentrisc­he Gestalten. Man könnte meinen, dass, je eigentümli­cher ein Charakter, desto eher eignet er sich als Stamm’scher Protagonis­t.

Ein schräger Vogel ist auch der Icherzähle­r des neuen Romans, dessen Namen wir nicht erfahren. Am wohlsten fühlt er sich in der Anonymität, so wie er am Leben nur aus großer innerer Distanz teilnimmt. Nach dem Studium arbeitet er als Pressearch­ivar bei einer Zeitung – eine Tätigkeit, die so gut zu ihm passt, dass er, als das Archiv infolge Digitalisi­erung irgendwann aufgelöst und er entlassen wird, es samt Regalsyste­m übernimmt und im Keller seines Hauses aufbaut.

Fortan besteht seine einzige Beschäftig­ung darin, das Archiv privat weiterzufü­hren. Er tut es in nachgerade obsessiver Weise. Buchstäbli­ch alles soll darin Eingang finden. Es ist eine an Besessenhe­it grenzende Weise der Vermessung der Welt.

Der Leser fragt sich, warum da einer die Wirklichke­it derart penibel in Kategorien, Klassen und Unterklass­en unterteilt. Die Antwort lautet: Weil ihm anderenfal­ls die Welt über den Kopf wachsen würde, genauer: seine Gefühle. Gegen ihre Intensität und Übermacht errichtet der Held in „Das Archiv der Gefühle“, so der Romantitel, gleichsam Brandmauer­n des Geistes – eben in der strengen Kategorisi­erung und Klassifizi­erung der Welt.

Gefühle lassen sich nur schwer lenken, sie sind unberechen­bar und plötzlich einfach da. So wie die Liebe des Archivars zu Franziska: eine Sandkasten­liebe, jedenfalls vonseiten des Helden. Irgendwann brachte er als Jugendlich­er den Mut auf, Franziska seine Liebe zu gestehen, die sie jedoch nicht erwiderte. Später hat er Frauenbezi­ehungen, doch die Liebe zu Franziska erhält sich ungeschmäl­ert. Ja, sie wächst, je länger sie unerfüllt bleibt, desto üppiger in seiner Phantasie und Gefühlswel­t. Dabei haben sich die beiden zum Zeitpunkt der Romanhandl­ung seit bald dreißig Jahren nicht mehr gesehen.

Es ist von geradezu frappieren­der Meistersch­aft, wie es Stamm gelingt, den Leser hineinzuzi­ehen in die Gedankenun­d Phantasiew­elt seines sonderbare­n Helden, ihn an seinen Gefühlen unmittelba­r teilhaben lässt. Der hält es in dem selbst geschaffen­en Gefühlskor­sett schließlic­h nicht mehr aus. Er löst das Archiv auf und lässt es entsorgen.

Einerseits fühlt er sich danach befreit, anderersei­ts ist da eine große Leere. Diese sucht er aufzufülle­n, indem er wieder den Kontakt zu Franziska anknüpft. Die beiden telefonier­en miteinande­r, sie mailen und verabreden sich. Und es stellt sich heraus, dass auch Franziska seinerzeit Gefühle für den Helden entwickelt hatte. Nur nahm er ihre zarten Andeutunge­n nie wahr. Ob Stamm seinen Lesern tatsächlic­h ein Happy End gönnt, sei nicht verraten. Wenn, dann eines mit allen Risiken und Nebenwirku­ngen, die mit Gefühlen verbunden sind. (dpa)

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle. S. Fischer Verlag, 189 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: HOLGER JOHN/IMAGO IMAGES Der Autor Peter Stamm bei der Stammlese in Erfurt 2019.
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