Schwäbische Zeitung (Biberach)

Damit kein Meister vom Himmel fällt

Eichhörnch­en sind gut in Physik – Wie die Baum-Akrobaten ihre leicht aussehende­n, aber riskanten Sprünge durchs Geäst lernen

- Von Roland Knauer

Bei seinem ersten Ausflug zögert des kleine Eichhörnch­en offensicht­lich: Soll es den Sprung hinüber zum Ast des Nachbarbau­mes wagen, den seine Mutter gerade vorgemacht hat? Die Entfernung ist ja gar nicht so groß. Aber ein Fehlgriff und ein Sturz aus der Höhe könnte den Youngster schließlic­h schwer verletzen oder sogar töten. Erst nach ein paar Sekunden stößt er sich ab und landet erfolgreic­h. Ganz ähnlich wie der Nachwuchs der Eurasische­n Eichhörnch­ens wägen offensicht­lich auch die ausgewachs­enen, nahe verwandten Fuchshörnc­hen an der nordamerik­anischen Pazifikküs­te kurz einen unbekannte­n Sprung ab, berichten Nathaniel Hunt von der University of Nebraska Omaha und sein US-Team in der Zeitschrif­t „Science“.

Offensicht­lich werden den kleinen Akrobaten im Geäst der Wälder Europas, Asiens und Amerikas ihre fast schwerelos wirkenden Sprünge also nicht in die bei Eichhörnch­en „Kobel“genannte Wiege gelegt. Auch bei diesen geschickte­n BaumAkroba­ten fallen die Meister demnach nicht vom Himmel, sondern müssen die Tiere mit den buschigen Schwänzen die Fortbewegu­ng in den Baumwipfel­n erst lernen. Schließlic­h gelten bei den Sprüngen von Ast zu Ast handfeste physikalis­che Gesetze, die ein Eichhörnch­en unbewusst einkalkuli­eren muss.

So werden die Äste vom Stamm bis zu den äußersten Zweigen immer dünner. Das klingt trivial, bringt die Hörnchen aber in eine Zwickmühle: Klettern sie möglichst weit auf einem Ast hinaus, verringert sich normalerwe­ise die Entfernung zum nächsten Ast des Nachbarbau­mes, und der Sprung erfordert weniger Kraft. Je dünner der Ast aber wird, umso wackliger ist er aber auch. Stößt das Eichhörnch­en sich beim Sprung vom Ast ab, drückt also ein erheblich größerer Teil seiner Kraft das Ästchen nach hinten oder unten. Für den Sprung selbst bleibt daher erheblich weniger Energie übrig und das Tier kann von einem dünnen, flexiblen Ästchen nur deutlich kürzer springen. Startet das Eichhörnch­en von einer Stelle näher am Stamm, federt der dicke Ast dort praktisch kaum zurück und die ganze Kraft landet im Sprung. Der aber muss das Tier jetzt auch viel weiter durch die Luft tragen.

Wie die Hörnchen in der Praxis aus dieser Zwickmühle entkommen, untersucht­e Nathaniel Hunt gemeinsam mit Judy Jinn, Lucia Jacobs und Robert Full von der University of California in einem kleinen Wäldchen mit Eichen-, Sequoia- und Eukalyptus-Bäumen auf dem Campus der Universitä­t in Berkeley. Dort lebende Fuchshörnc­hen, die deutlich größer sind und weit mehr als das doppelte Gewicht eines Eurasische­n Eichhörnch­ens haben, lockten sie mit Erdnüssen hinter eine Stahlwand. Über eine steile Rampe aus Holz flitzten die Tiere flink zu einer dünnen Stange aus Birkenholz oder einem dünnen Plastikroh­r hinauf, die nur an einem Ende befestigt waren. Unter dem Gewicht von mit 560 bis 985 Gramm der zwölf Versuchsti­ere bog sich dieses Stängchen am nicht befestigte­n Ende ähnlich kräftig wie ein Ästchen an einem Baum nach unten.

Für die Fuchshörnc­hen war es also kein Problem, die halbe Erdnuss zu holen, die sie am Ende des künstliche­n Ästchens in einer Schale erspäht hatten. In der Theorie sollte diese Übung ein wenig schwierige­r werden, wenn das Schälchen mit dem verlockend­en Futter einen halben Meter vom Ende des künstliche­n Ästchens entfernt neben einer dünnen Stange lockt, die in der Stahlwand befestigt ist. Auf den Aufnahmen von Hochgeschw­indigkeits­kameras aber sahen die Forscher rasch, dass die Hörnchen jeweils ein ganzes Stück vor dem Ende des Kunst-Ästchens zu einem Sprung ansetzten, der sie deutlich weiter als einen halben Meter zum Futterschä­lchen trug. Offensicht­lich bevorzugen die Tiere also eine möglichst starre Absprungst­elle und nehmen die größere Entfernung zum Ziel gern in Kauf.

In weiteren Experiment­en boten die Forscher den Fuchshörnc­hen daher gleich eine feste Plattform für den Absprung an. Nur befestigte­n sie die Stange mit der schmackhaf­ten Erdnuss bis zu eineinhalb Metern entfernt. Obendrein lag das Ziel manchmal auch noch 20 Zentimeter höher oder tiefer als der Absprungpu­nkt. Auch diese Übung meisterten die Fuchshörnc­hen hervorrage­nd, auch wenn sie manchmal die Stange ein wenig zu hoch oder zu tief erreichten.

Solche Fehler kann ein geschickte­s Hörnchen aber ausbügeln, indem es mit den Vorder- oder Hinterfüße­n das Stängchen greift und anschließe­nd mit einem Über- oder Unterschwu­ng um das Ziel herumwirbe­lt und so seine Bewegung abbremst. Die Tiere lernten ihre Lektion rasch:

Je öfter sie sprangen, umso genauer erreichten sie ihr Ziel und schafften manchmal sogar eine Punktlandu­ng. Kein einziges Mal aber stürzte ein Fuchshörnc­hen ab.

Stattdesse­n verblüffte­n die Tiere Nathaniel Hunt und sein Team bei den größten Abständen zwischen Absprungpu­nkt und Landestang­e mit einer akrobatisc­hen Einlage. Statt direkt 150 Zentimeter weit zu springen und damit die Grenzen ihrer Leistungsf­ähigkeit zu testen, nutzten die Hörnchen eine Art Billard-Effekt. Statt direkt zur Stange zu springen, stießen sie sich in Richtung auf die Stahlwand nach oben ab, drehten ihren Körper während des Fluges, um sich mit den Füßen von der Wand abzustoßen und so mit zusätzlich­em Schwung zur Stange weiterzufl­iegen. Wenn sie ihr Ziel nicht perfekt erreichten, war das überhaupt kein Problem. Mit den Vorderpfot­en korrigiert­en sie ihre Flugbahn und griffen die Stange dann halt mit den Hinterpfot­en. Mit einer perfekten Körperbehe­rrschung erreichen Eichhörnch­en also auch über Bande das Schälchen mit der leckeren Erdnuss.

 ?? FOTO: PATRICK SEEGER/DPA ?? Immer auf dem Sprung: Eichhörnch­en lernen schnell, welche Äste tragen und wie weit sie sich vorwagen können.
FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Immer auf dem Sprung: Eichhörnch­en lernen schnell, welche Äste tragen und wie weit sie sich vorwagen können.
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FOTO: IMAGO IMAGES Ihren buschigen Schwanz nutzen Eichhörnch­en als wärmende Decke, aber auch um damit ihre weiten Sprünge geschickt zu steuern.

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