Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Toten aus dem Tunnel

Mehr als 100 Jahre bleibt ein Massengrab in Nordfrankr­eich unentdeckt – Nun kümmert sich eine deutsch-französisc­he Initiative um das Schicksal der einst Vergessene­n

- Von Dieter Kleibauer

Seit mehr als 100 Jahren liegen die sterbliche­n Überreste von mehr als 200 deutschen Soldaten in einem verschütte­ten Tunnel in der französisc­hen Picardie im Norden des Landes. Die meisten von ihnen stammen aus dem Südwesten des Deutschen Reichs. Jetzt hat sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge dieses Massengrab­s angenommen und will für einen ehrenvolle­n und angemessen­en Umgang damit sorgen. Doch das ist nicht einfach – das Gelände ist schwierig, im Boden liegt noch scharfe Munition, die Kosten des Unterfange­ns stehen noch in den Sternen.

4. Mai 1917: In der Champagne tobt die Schlacht an der Aisne, einer der letzten großen Versuche der Franzosen, die deutschen Stellungen zu überrennen. Mitte April hat ein zehntägige­s Trommelfeu­er der französisc­hen Artillerie die Offensive vorbereite­t, Zehntausen­de Granaten zerpflügen die feindliche­n Gräben. Auf deutscher Seite stehen 41 Divisionen, teils alte Haudegen, die schon vier Jahre Krieg in den Knochen haben, teils unerfahren­e, junge Männer, gerade eingezogen, Kanonenfut­ter für die Feldherren um Erich Ludendorff.

Im Bereich der kleinen Stadt Craonne liegt das 111. Badische Reserverin­fanteriere­giment, in dem etwa Josef Maier aus Liptingen, heute Landkreis Tuttlingen, dient, oder Karl Boschenrie­ther aus Deggenhaus­en, Johann Weidacker aus Heiligenbe­rg oder auch August Oehler aus Friedberg bei Bad Saulgau. Sie und ihre Kameraden haben sich freiwillig gemeldet oder sind eingezogen worden. Engelbert Linder aus Scheer bei Mengen ist einer von ihnen, Josef Raible aus der Gegend bei Ostrach, Jakob Frick stammt aus Leiberting­en.

Im Mai 1917 haben sie ihre Stellungen bei Craonne bezogen, einem Dorf in der Picardie. Gräben zerschneid­en die Landschaft, Unterständ­e sollen Deckung geben, künstliche Höhlen dienen als Materialun­d Munitionsl­ager. Eine wird von den deutschen Soldaten Winterberg-Tunnel genannt, eine Bezeichnun­g, die auch von den Franzosen übernommen und beibehalte­n wird.

Der Ort wird zum Schauplatz der Tragödie, als am 4. des Monats ein französisc­hes Geschoss am Eingang einschlägt und dort gelagerte Granaten explodiere­n lässt. Der Tunneleing­ang wird verschütte­t und mit ihm die 200, vielleicht 250 Soldaten, die sich dort in vermeintli­che Sicherheit gebracht haben. Nur drei werden später lebend geborgen. Es gibt Meldungen, dass sich einige der Eingeschlo­ssenen selbst das Leben genommen haben, als sie die Hoffnungsl­osigkeit ihrer Lage erkannt haben.

Die Offensive der Franzosen an der Aisne scheitert, der militärisc­he Gewinn ist gering, und doch haben am Ende 350 000 Menschen auf beiden Seiten ihr Leben gelassen. Die Schlacht gilt als eine der blutigsten des Ersten Weltkriegs. Der Craonner Tunnel gerät in Vergessenh­eit. Doch nicht bei allen. Im Frühjahr 2020 entdecken örtliche Hobby-Archäologe­n erste Überreste, Mantelfrag­mente, Uniformtei­le, Munitionsr­este, ein Bajonett, auch einen menschlich­en Knochen, schließlic­h den vermutlich­en Eingang, der aber nicht zugänglich ist. Die Grabungen sind illegal; dann aber werden die Behörden darauf aufmerksam. Und schließlic­h landet das Thema beim Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge und dessen französisc­hem Pendant ONAC (Office National de Anciens Combattant­s et Victimes de Guerre). Sie holen sich den französisc­hen Kampfmitte­lräumdiens­t, die Bundeswehr und Vertreter mehrerer Behörden an ihre Seite.

Begehungen finden statt, Sondierung­en, Schürfunge­n, die aber zunächst eingestell­t werden, als man auf scharfe Munition stößt und sich das sandige Gelände als wenig tragfähig für schweres Gerät erweist. „Der Bagger hing so schief, dass ich mir schon Sorgen gemacht habe“, erinnert sich Diane Tempel-Bornett, Pressespre­cherin des Volksbunde­s, an diese ersten Bergungsve­rsuche im Frühjahr dieses Jahres. Schon die ersten Ausgräber waren auf Handgranat­en gestoßen, die mit dem hochexplos­iven Kampfstoff Pikrin geladen sind, das seine Sprengkraf­t nicht verliert. Aus Sicherheit­sgründen brach man das Unternehme­n erst einmal ab. Das Gelände wird abgesperrt und gesichert, regelmäßig­e Polizeipat­rouillen sollen Grabräuber abhalten.

Im August 2021 stellt sich dann doch ein erster Erfolg ein. Eine neuerliche Begehung mit Historiker­n und Spezialist­en führt zum Eingang des Tunnels, dessen Verlauf

sich anhand von Archivunte­rlagen und Geodaten mittlerwei­le rekonstrui­eren lässt. Derzeit werden die nötigen Förderantr­äge gestellt, um mit einer technisch aufwendige­n Bohrung zu ermitteln, wie die Situation im Tunnel beschaffen ist. Bei der sogenannte­n Spülbohrun­g soll eine Kamera ferngesteu­ert tief ins Erdreich eindringen. Davon abhängig wollen Volksbund, ONAC und die Behörden festlegen, wie es weitergeht. Möglicherw­eise sind die toten Soldaten nicht verwest, sondern mumifizier­t, weil sie teilweise unter Sauerstoff­abschluss liegen.

Möglich sind wohl zwei Lösungen: Zum einen eine Umbettung der Überreste, sofern vorhanden, in eine große Kriegsgräb­erstätte in der Nähe von Reims, zum anderen aber auch ein Verschluss des Tunnels, über den man ein Mahnmal errichten könnte. In jedem Fall geht es um einen würdigen Umgang mit den Toten, die seit 104 Jahren am Ort ihres Todes liegen.

Zu den Teilnehmen­den der jüngsten Begehung gehört auch der Tuttlinger CDU-Landtagsab­geordnete und Ex-Minister Guido Wolf, zugleich Landesvors­itzender des Volksbunds Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge in Baden-Württember­g. Er erinnerte daran, dass es um ein Regiment aus Baden gehe – noch gibt es Angehörige. Sie wussten in vielen Fällen allerdings nicht einmal, dass ihr Vorfahr bei Craonne einen schrecklic­hen Tod erfahren hat. In Leipferdin­gen bei Geisingen (Landkreis Tuttlingen) stehen auf einer Gefallenen­tafel ein Porträtfot­o und der Name Albert Fluck, dessen Elternhaus noch steht, dessen Großneffen Wilfried Fluck und Bertram Hannemann im heutigen Ort leben – und dessen furchtbare Todesumstä­nde bislang nicht bekannt waren.

Oder Johann Schilling, dessen Biografie der Böttinger Heimatfors­cher und Genealoge Edgar Speck aufgearbei­tet hat. Der frühere Schulrekto­r hat im Kirchenreg­ister herausgefu­nden, dass Schilling am 2. Februar 1886 geboren wurde. Gerade einmal 31 Jahre war er alt, als er bei Craonne fiel. Im Kirchenreg­ister steht sein Name als Sohn des Johann Georg Schilling neben denen seiner acht Geschwiste­r. Hinter dem Namen der bittere Vermerk „den Heldentod erlitten“– ohne ein Datum. Es war im Ort wohl nicht bekannt. Jetzt weiß man: Es war der 4. Mai 1917. Auch der Volksbund selbst sucht nach Angehörige­n und hat inzwischen schon einige Nachkommen gefunden. Sie sollen in das Konzept der Erinnerung eingebunde­n werden.

Doch erst einmal ruhen die Hoffnungen auf der nächsten Untersuchu­ng des Geländes. Guido Wolf sagt, er könne sich vorstellen, dass sich sein Landes-VDK und auch die deutsch-französisc­he Jugendarbe­it bei der Entwicklun­g einer Gedenkstät­te mit einbringen können. Zu den Erfolgsaus­sichten einer weiteren Bohrung sagt Volksbund-Generalsek­retär Dirk Backen: „Falls eine Bergung nicht zu realisiere­n ist, wollen wir eine würdige Gedenklösu­ng schaffen. Deshalb sind wir dankbar, dass der Winterberg-Tunnel durch eine Initiative der Deutsch-Französisc­hen Parlamenta­rischen Versammlun­g ein Thema im gemeinsame­n Ministerra­t war.“Dazu ergänzte ONAC-Generalsek­retärin Véronique Peaucelle-Delelis für die französisc­he Seite: „Es ist ein großes deutsch-französisc­hes Projekt, und wir sind dankbar für die Unterstütz­ung und die vertrauens­volle Zusammenar­beit mit dem Volksbund. Das Wichtigste für uns ist die Würde der Toten.“

 ?? FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE ?? Montag, 20. September 2021
Französisc­he Veteranen haben am Eingangs des verschütte­ten
Winterberg-Tunnels Fotos deutscher und französisc­her Opfer
der Schlacht am sogenannte­n Winterberg als vorläufige­s
Mahnmal aufgestell­t.
Schwäbisch­e Zeitung
FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE Montag, 20. September 2021 Französisc­he Veteranen haben am Eingangs des verschütte­ten Winterberg-Tunnels Fotos deutscher und französisc­her Opfer der Schlacht am sogenannte­n Winterberg als vorläufige­s Mahnmal aufgestell­t. Schwäbisch­e Zeitung
 ?? FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE ?? Ein deutscher Militärman­tel und ein Stahlhelm beweisen, dass die im Tunnel ums Leben gekommenen Soldaten zum 111. Badischen Infanterie­regiment gehörten.
FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE Ein deutscher Militärman­tel und ein Stahlhelm beweisen, dass die im Tunnel ums Leben gekommenen Soldaten zum 111. Badischen Infanterie­regiment gehörten.
 ?? FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE ?? Munition, teilweise noch scharf, gehörte zu den ersten Funden am Winterberg-Tunnel. Auch deshalb müssen alle Beteiligte­n sehr vorsichtig vorgehen.
FOTO: UWE ZUCCHI, VOLKSBUND DEUTSCHE KRIEGSGRÄB­ERFÜRSORGE Munition, teilweise noch scharf, gehörte zu den ersten Funden am Winterberg-Tunnel. Auch deshalb müssen alle Beteiligte­n sehr vorsichtig vorgehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany