Schwäbische Zeitung (Biberach)
Grünes Spitzenduo kämpft für mehr Baden-Württemberg im Bund
Cem Özdemir gilt als das ewige Talent der Grünen Franziska Brantner ist die neue Frau auf Listenplatz eins
BERLIN - Wie verheißungsvoll klangen doch die Umfragen für die Grünen bei der vergangenen Bundestagswahl im Jahr 2017. Für den damaligen Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir schien der Moment gekommen, in dem er zeigen konnte, dass er nicht nur politisches Talent hat, sondern auch regieren kann. Außenminister hätte er womöglich werden können, auch wenn die Diplomatie in seinen Aussagen nicht unbedingt an erster Stelle steht. Doch dann kam das abrupte Ende der geplanten Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen – und Özdemir, der als Parteichef auf ein sehr viel schlechteres Grünen-Ergebnis als erwartet blickte, zog sich zurück. Ein Posten blieb ihm, er wurde Vorsitzendes des Bundestagsausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur. Mit seiner Kampfkandidatur um den Grünen-Fraktionsvorsitz scheiterte er allerdings im September 2019. All das musste er erst einmal wegstecken.
Vier Jahre später: Cem Özdemir steht auf Platz zwei der baden-württembergischen Landesliste, kämpft um das Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart I, ist in Talkshows wie Lanz fast so präsent wie eh und je und äußert sich medienwirksam zu sehr viel mehr Themen, als es seine Zuständigkeit im Parlament und seine Position in der Partei vermuten ließen. Wenn der Europarat der Türkei, wie am Freitag geschehen, ein Ultimatum stellt und mit Rauswurf droht, dann meldet sich Özdemir zu Wort und kommentiert diese Entscheidung. Dass er selbst türkische Wurzeln hat, scheint bei seiner Kritik am türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine untergeordnete Rolle zu spielen, denn er legt sich auch mit anderen Staatenlenkern an, die offenkundig ein Problem mit Meinungs- und Medienfreiheit haben. Ob sie nun Wladimir Putin heißen oder Nicolas Maduro.
Wenn der 55-Jährige ein Thema in der Öffentlichkeit lancieren will, braucht er weder die klassischen Medien noch die Abteilung Marketing seiner eigenen Partei. Schließlich folgen ihm auf Twitter inzwischen 252 639 (Stand Sonntagnachmittag) Follower. Das ist für einen Politiker, der derzeit eigentlich nur Ausschussvorsitzender ist, eine bemerkenswerte Schar. Auch auf Facebook und Instagram ist Özdemir präsent, postet Bilder von seinem „#Cemtrail“genannten Wahlkampf, aber auch Persönliches wie die Würdigung der Lebensleistung seiner Mutter, die im August dieses Jahres mit 88 Jahren gestorben ist.
Die Wahlkampfbotschaft des Grünen, der immer wieder sowohl auf seine schwäbische Herkunft aus Bad Urach als auch seine türkischen Hintergrund verweist, ist klar: Mit dem Klimaschutz in Deutschland, auch mit der Verkehrswende, müsse es sehr viel schneller vorangehen, fordert er. „Wir stehen vor den entscheidenden Jahren, um bei der Klimakrise das Schlimmste noch zu verhindern“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“. Er wolle, „dass Deutschland in den kommenden Jahren zum Spitzenreiter bei der Entwicklung klimaneutraler Prozesse und Produkte wird“. Welche Rolle er sich dabei vorstellen könnte, ergibt sich aus seiner jetzigen Position und aus seiner Rede, mit der er sich im April um den zweiten Listenplatz bewarb. Es müsse Schluss sein mit der Tradition, dass CSU-Politiker aus Bayern das Verkehrsministerium übernehmen, forderte er.
Auch als Nachfolger des badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ist Özdemir, der mit einer argentinischen Journalistin verheiratet ist und zwei Kinder hat, immer wieder mal im Gespräch. Er sieht in dem grünen Landeschef ein politisches Vorbild. Kretschmann zeige in Baden-Württemberg, „wie Klimaschutz, gesellschaftlicher Zusammenhalt und eine starke Wirtschaft zusammen gedacht werden“, so
Özdemir. Auf Bundesebene Verhältnisse wie in Baden-Württemberg zu erreichen: Das steht wohl bei jedem Grünen aus dem Südwesten ganz oben auf der Wunschliste. Der neue Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg habe das Morgen im Blick, sagt Özdemir dazu. Das wünsche er sich auch für den Bund.
BERLIN - Von Platz neun im Jahr 2017 auf die Spitzenposition – das war ein gewaltiger Sprung. Franziska Brantner, Grünen-Abgeordnete für den Wahlkreis Heidelberg, wollte im April dieses Jahres auf den ersten Platz der Landesliste für die Bundestagswahl. Die Ravensburger Abgeordnete
Agnieszka Brugger hatte das gleiche Ziel, Brantner setzte sich durch, Brugger kam auf Platz drei. Ob die Kampfkandidatur dem Verhältnis der beiden geschadet hat? Die 42-Jährige lacht. „Nein, wir haben ein gutes Verhältnis und sind beide sehr stolz, dass wir das so gut hinbekommen“, sagt sie der „Schwäbischen Zeitung“.
Grünes Urgestein, bei einer Frau in ihrem Alter klingt das nicht angemessen, aber bezogen auf ihre eigene Biografie passt es doch irgendwie. Vor 26 Jahren, mit 16, wurde sie Mitglied der Grünen Jugend, nach dem Abitur in Freiburg arbeitete sie für die Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv und Washington. Dann, nach Studium und Promotion, entschied sie sich ganz für die Politik, wechselte von der Projektarbeit für internationale Organisationen auf die Parlamentarierseite – von 2009 an im Europaparlament, seit 2012 im Bundestag. Die alleinerziehende Mutter war vier Jahre lang familienpolitische Sprecherin der Fraktion und jetzt, in dieser Legislatur, europapolitische Sprecherin und parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion. Zur Popularität eines Cem Özdemirs hat sie es mit diesen Aufgaben zwar nicht gebracht, aber sollten die Grünen in die Regierung kommen, könnte sich vieles verändern, auch für sie.
Brantner brennt für ihren Beruf – das wird im Gespräch mit der Abgeordneten recht schnell deutlich. Sie will etwas verändern, die Politik besser, die Gesellschaft sozialer machen, gleichzeitig den Klimaschutz vorantreiben. Die Überzeugung „Das geht auch besser“habe sie als Jugendliche zur Politik gebracht, diese Überzeugung treibt sie bis heute an. „Im Austausch mit Menschen, die Dinge voranzubringen, das gibt mir Energie, das macht mir Spaß“, sagt Brantner. Dies sei auch eine ihrer Antriebsquellen für den Wahlkampf im Kreis Heidelberg – und darüber hinaus.
Dass eine grüne Politikerin dabei vor allem den Klimaschutz auf der Agenda hat, überrascht nicht. Doch Brantner sieht auch dieses Vorhaben in einem größeren Kontext. Klimaschutz, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit müssten zusammen gedacht werden, sagt sie. „Wir müssen auf diesem Weg jeden mitnehmen, auch diejenigen, die geringe Einkommen haben.“Überhaupt ist es ihr ein Anliegen, die Menschen mehr an politischen Entscheidungen mitwirken zu lassen. Ihr großes Vorbild in dieser Beziehung: der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Dessen Idee einer Politik des Gehörtwerdens, der stärkeren Bürgerbeteiligung würde sie sich auch auf Bundesebene wünschen.
Dass die Grünen wenige Tage vor der Bundestagswahl in den Umfragen mehr als zehn Prozentpunkte von ihrem Höhenflug im April entfernt sind, sieht die gebürtige Lörracherin sportlich. „Wahlkampf kommt von kämpfen. Es lohnt sich, jeden Tag um jede Stimme zu ringen“, ist sie überzeugt. Welche Koalition am Ende zustande kommt, ist für sie derzeit zweitrangig, solange es keine sogenannte Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP ist. „Ich will, das wir Grünen stark abschneiden. Die Landtagswahl in Baden-Württemberg hat doch gezeigt, wie viel wir rausholen können mit einem guten Ergebnis.“
Brantner lebt seit vielen Jahren in Heidelberg. Geprägt hat sie allerdings das kleinstädtische Leben in Neuenburg am Rhein, wo sie aufgewachsen ist, ein Ort mit Vereinen und Narrenzunft, wo sich die Menschen getroffen und ausgetauscht haben, unabhängig von ihrer sozialen Schicht. Ein solches Modell des Zusammenlebens müsste auch in den Großstädten weiter funktionieren, sagt sie. „Es kann nicht sein, dass sich nur noch Professoren leisten können, in Heidelberg zu wohnen. Die Stadt muss auch für eine Pflegefachkraft erschwinglich bleiben.“Für eine „gute Daseinsvorsorge“, wie sie es nennt, dafür will sie sich weiter engagieren, auch über den 26. September hinaus.