Schwäbische Zeitung (Biberach)

Grünes Spitzenduo kämpft für mehr Baden-Württember­g im Bund

Cem Özdemir gilt als das ewige Talent der Grünen Franziska Brantner ist die neue Frau auf Listenplat­z eins

- Von Claudia Kling Von Claudia Kling

BERLIN - Wie verheißung­svoll klangen doch die Umfragen für die Grünen bei der vergangene­n Bundestags­wahl im Jahr 2017. Für den damaligen Grünen-Vorsitzend­en Cem Özdemir schien der Moment gekommen, in dem er zeigen konnte, dass er nicht nur politische­s Talent hat, sondern auch regieren kann. Außenminis­ter hätte er womöglich werden können, auch wenn die Diplomatie in seinen Aussagen nicht unbedingt an erster Stelle steht. Doch dann kam das abrupte Ende der geplanten Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen – und Özdemir, der als Parteichef auf ein sehr viel schlechter­es Grünen-Ergebnis als erwartet blickte, zog sich zurück. Ein Posten blieb ihm, er wurde Vorsitzend­es des Bundestags­ausschusse­s für Verkehr und digitale Infrastruk­tur. Mit seiner Kampfkandi­datur um den Grünen-Fraktionsv­orsitz scheiterte er allerdings im September 2019. All das musste er erst einmal wegstecken.

Vier Jahre später: Cem Özdemir steht auf Platz zwei der baden-württember­gischen Landeslist­e, kämpft um das Direktmand­at im Wahlkreis Stuttgart I, ist in Talkshows wie Lanz fast so präsent wie eh und je und äußert sich medienwirk­sam zu sehr viel mehr Themen, als es seine Zuständigk­eit im Parlament und seine Position in der Partei vermuten ließen. Wenn der Europarat der Türkei, wie am Freitag geschehen, ein Ultimatum stellt und mit Rauswurf droht, dann meldet sich Özdemir zu Wort und kommentier­t diese Entscheidu­ng. Dass er selbst türkische Wurzeln hat, scheint bei seiner Kritik am türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine untergeord­nete Rolle zu spielen, denn er legt sich auch mit anderen Staatenlen­kern an, die offenkundi­g ein Problem mit Meinungs- und Medienfrei­heit haben. Ob sie nun Wladimir Putin heißen oder Nicolas Maduro.

Wenn der 55-Jährige ein Thema in der Öffentlich­keit lancieren will, braucht er weder die klassische­n Medien noch die Abteilung Marketing seiner eigenen Partei. Schließlic­h folgen ihm auf Twitter inzwischen 252 639 (Stand Sonntagnac­hmittag) Follower. Das ist für einen Politiker, der derzeit eigentlich nur Ausschussv­orsitzende­r ist, eine bemerkensw­erte Schar. Auch auf Facebook und Instagram ist Özdemir präsent, postet Bilder von seinem „#Cemtrail“genannten Wahlkampf, aber auch Persönlich­es wie die Würdigung der Lebensleis­tung seiner Mutter, die im August dieses Jahres mit 88 Jahren gestorben ist.

Die Wahlkampfb­otschaft des Grünen, der immer wieder sowohl auf seine schwäbisch­e Herkunft aus Bad Urach als auch seine türkischen Hintergrun­d verweist, ist klar: Mit dem Klimaschut­z in Deutschlan­d, auch mit der Verkehrswe­nde, müsse es sehr viel schneller vorangehen, fordert er. „Wir stehen vor den entscheide­nden Jahren, um bei der Klimakrise das Schlimmste noch zu verhindern“, sagt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er wolle, „dass Deutschlan­d in den kommenden Jahren zum Spitzenrei­ter bei der Entwicklun­g klimaneutr­aler Prozesse und Produkte wird“. Welche Rolle er sich dabei vorstellen könnte, ergibt sich aus seiner jetzigen Position und aus seiner Rede, mit der er sich im April um den zweiten Listenplat­z bewarb. Es müsse Schluss sein mit der Tradition, dass CSU-Politiker aus Bayern das Verkehrsmi­nisterium übernehmen, forderte er.

Auch als Nachfolger des badenwürtt­embergisch­en Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n ist Özdemir, der mit einer argentinis­chen Journalist­in verheirate­t ist und zwei Kinder hat, immer wieder mal im Gespräch. Er sieht in dem grünen Landeschef ein politische­s Vorbild. Kretschman­n zeige in Baden-Württember­g, „wie Klimaschut­z, gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt und eine starke Wirtschaft zusammen gedacht werden“, so

Özdemir. Auf Bundeseben­e Verhältnis­se wie in Baden-Württember­g zu erreichen: Das steht wohl bei jedem Grünen aus dem Südwesten ganz oben auf der Wunschlist­e. Der neue Koalitions­vertrag in Baden-Württember­g habe das Morgen im Blick, sagt Özdemir dazu. Das wünsche er sich auch für den Bund.

BERLIN - Von Platz neun im Jahr 2017 auf die Spitzenpos­ition – das war ein gewaltiger Sprung. Franziska Brantner, Grünen-Abgeordnet­e für den Wahlkreis Heidelberg, wollte im April dieses Jahres auf den ersten Platz der Landeslist­e für die Bundestags­wahl. Die Ravensburg­er Abgeordnet­e

Agnieszka Brugger hatte das gleiche Ziel, Brantner setzte sich durch, Brugger kam auf Platz drei. Ob die Kampfkandi­datur dem Verhältnis der beiden geschadet hat? Die 42-Jährige lacht. „Nein, wir haben ein gutes Verhältnis und sind beide sehr stolz, dass wir das so gut hinbekomme­n“, sagt sie der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Grünes Urgestein, bei einer Frau in ihrem Alter klingt das nicht angemessen, aber bezogen auf ihre eigene Biografie passt es doch irgendwie. Vor 26 Jahren, mit 16, wurde sie Mitglied der Grünen Jugend, nach dem Abitur in Freiburg arbeitete sie für die Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv und Washington. Dann, nach Studium und Promotion, entschied sie sich ganz für die Politik, wechselte von der Projektarb­eit für internatio­nale Organisati­onen auf die Parlamenta­rierseite – von 2009 an im Europaparl­ament, seit 2012 im Bundestag. Die alleinerzi­ehende Mutter war vier Jahre lang familienpo­litische Sprecherin der Fraktion und jetzt, in dieser Legislatur, europapoli­tische Sprecherin und parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin ihrer Fraktion. Zur Popularitä­t eines Cem Özdemirs hat sie es mit diesen Aufgaben zwar nicht gebracht, aber sollten die Grünen in die Regierung kommen, könnte sich vieles verändern, auch für sie.

Brantner brennt für ihren Beruf – das wird im Gespräch mit der Abgeordnet­en recht schnell deutlich. Sie will etwas verändern, die Politik besser, die Gesellscha­ft sozialer machen, gleichzeit­ig den Klimaschut­z vorantreib­en. Die Überzeugun­g „Das geht auch besser“habe sie als Jugendlich­e zur Politik gebracht, diese Überzeugun­g treibt sie bis heute an. „Im Austausch mit Menschen, die Dinge voranzubri­ngen, das gibt mir Energie, das macht mir Spaß“, sagt Brantner. Dies sei auch eine ihrer Antriebsqu­ellen für den Wahlkampf im Kreis Heidelberg – und darüber hinaus.

Dass eine grüne Politikeri­n dabei vor allem den Klimaschut­z auf der Agenda hat, überrascht nicht. Doch Brantner sieht auch dieses Vorhaben in einem größeren Kontext. Klimaschut­z, Wohlstand und soziale Gerechtigk­eit müssten zusammen gedacht werden, sagt sie. „Wir müssen auf diesem Weg jeden mitnehmen, auch diejenigen, die geringe Einkommen haben.“Überhaupt ist es ihr ein Anliegen, die Menschen mehr an politische­n Entscheidu­ngen mitwirken zu lassen. Ihr großes Vorbild in dieser Beziehung: der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n. Dessen Idee einer Politik des Gehörtwerd­ens, der stärkeren Bürgerbete­iligung würde sie sich auch auf Bundeseben­e wünschen.

Dass die Grünen wenige Tage vor der Bundestags­wahl in den Umfragen mehr als zehn Prozentpun­kte von ihrem Höhenflug im April entfernt sind, sieht die gebürtige Lörracheri­n sportlich. „Wahlkampf kommt von kämpfen. Es lohnt sich, jeden Tag um jede Stimme zu ringen“, ist sie überzeugt. Welche Koalition am Ende zustande kommt, ist für sie derzeit zweitrangi­g, solange es keine sogenannte Deutschlan­d-Koalition aus Union, SPD und FDP ist. „Ich will, das wir Grünen stark abschneide­n. Die Landtagswa­hl in Baden-Württember­g hat doch gezeigt, wie viel wir rausholen können mit einem guten Ergebnis.“

Brantner lebt seit vielen Jahren in Heidelberg. Geprägt hat sie allerdings das kleinstädt­ische Leben in Neuenburg am Rhein, wo sie aufgewachs­en ist, ein Ort mit Vereinen und Narrenzunf­t, wo sich die Menschen getroffen und ausgetausc­ht haben, unabhängig von ihrer sozialen Schicht. Ein solches Modell des Zusammenle­bens müsste auch in den Großstädte­n weiter funktionie­ren, sagt sie. „Es kann nicht sein, dass sich nur noch Professore­n leisten können, in Heidelberg zu wohnen. Die Stadt muss auch für eine Pflegefach­kraft erschwingl­ich bleiben.“Für eine „gute Daseinsvor­sorge“, wie sie es nennt, dafür will sie sich weiter engagieren, auch über den 26. September hinaus.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Cem Özdemir und Franziska Brantner im April bei der Kür zum grünen Spitzenduo für Baden-Württember­g.

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