Schwäbische Zeitung (Biberach)

Heiße Debatten um Corona-„Freedom Day“

Politiker und Experten kritisiere­n Vorstoß von Kassenärzt­echef Gassen

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OSNABRÜCK/HAMBURG (epd) - Die Forderung von Kassenärzt­echef Andreas Gassen nach Aufhebung aller Corona-Beschränku­ngen Ende Oktober ist bei Experten und Politikern auf massive Kritik gestoßen. Der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach bezeichnet­e den Vorstoß auf Twitter als „nicht ethisch vertretbar“. Auch die Deutsche Stiftung Patientens­chutz hält die Idee für abwegig.

Gassen hatte in der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“(Samstag) die Politik in Deutschlan­d aufgeforde­rt, sich Großbritan­nien zum Vorbild zu nehmen. Dort waren am 19. Juli fast alle Corona-Beschränku­ngen aufgehoben worden. Gassen sagte, die Politik müsse eine klare Ansage machen: „In sechs Wochen ist auch bei uns ,Freedom Day’! Am 30. Oktober werden alle Beschränku­ngen aufgehoben!“Das ließe allen, die wollten, genug Zeit, sich noch impfen zu lassen.

In Großbritan­nien sei das Gesundheit­ssystem nach Aufhebung der Maßnahmen nicht kollabiert, führte Gassen aus. „Das muss Mut machen, zumal das deutsche Gesundheit­ssystem deutlich leistungsf­ähiger als das britische ist und deutlich mehr Schwerkran­ke, die wir hoffentlic­h auch nicht haben werden, behandeln könnte“, erläuterte er.

Lauterbach sagte der Zeitung, er halte den Ansatz für unvertretb­ar, „einfach mal auszuteste­n, was unser Gesundheit­ssystem aushält, wie viele Patienten auch intensiv behandelt werden können“. Auch sei die Hoffnung unrealisti­sch, durch die Ankündigun­g eines „Freedom Days“die Menschen zum Impfen motivieren zu wollen. Er schlug vor, das Ziel einer Impfquote von 85 Prozent der erwachsene­n Bevölkerun­g auszugeben und anzukündig­en, dass beim Erreichen der Marke wesentlich­e Lockerunge­n kommen könnten.

Patientens­chützer Eugen Brysch kritisiert­e, die Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen seien „immer für eine Schlagzeil­e“zu haben. „Doch beim Blick in die Arztpraxen, Krankenhäu­ser und Pflegeheim­e scheinen solche flotten Sprüche nicht anzukommen. Denn die Corona-Einschränk­ungen sind hier für jeden Patienten, Pflegebedü­rftigen und Angehörige­n allgegenwä­rtig“, erklärte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz.

Niedersach­sens Ärztekamme­rPräsident­in Martina Wenker sagte der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“, es widersprec­he der ärztlichen Sorgfaltsp­flicht, „quasi Wetten auf zukünftige Krankheits­verläufe abzuschlie­ßen“.

Auch Niedersach­sens Gesundheit­sministeri­n Daniela Behrens (SPD) stellte sich gegen Gassen. Sie halte die Forderung mit Blick auf den Herbst und Winter „noch für zu leichtsinn­ig“, sagte Behrens der Zeitung. Bremens Gesundheit­ssenatorin Claudia Bernhard (Linke) ergänzte, niemand könne derzeit seriös garantiere­n, „dass wir die Situation dauerhaft im Griff haben“.

Der Grünen-Gesundheit­sexperte Janosch Dahmen sagte dem Sender NDR Info, jetzt so zu tun, „als sei die Pandemie ein Privatverg­nügen und

Ungeimpfte letztlich selbst dran Schuld und wir könnten uns jetzt von allen Schutzmaßn­ahmen verabschie­den, das halte ich für zynisch“. Außerdem widersprec­he die Forderung der Haltung, die die Mehrheit der niedergela­ssenen Ärzte vertrete, sagte der grüne Bundestags­abgeordnet­e.

Zuspruch erhält Gassen derweil von der AfD. Spitzenkan­didatin Alice Weidel teilte mit: „Die Kassenärzt­e wissen besser als alle selbst ernannten Gesundheit­sexperten um die Corona-Lage und den Zustand unseres Gesundheit­ssystems. (…) Die Notlage darf nicht zur neuen Normalität werden. Statt 2G-Regime und Lockdown für Ungeimpfte braucht Deutschlan­d schnellstm­öglich den Freiheitst­ag.“

Der Bundestags­abgeordnet­e Andrew Ullmann (FDP) sagte dem Sender NDR Info, er halte die Diskussion über eine Aufhebung der CoronaRege­ln für richtig. Es sei jedoch zu früh dafür, ein konkretes Datum zu nennen. In den kommenden Wochen müsse man die Corona-Entwicklun­gen genau beobachten.

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FOTO: IMAGO IMAGES Andreas Gassen

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