Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das Betonerbe hilft bei der Klimaneutr­alität

Vorarlberg gilt beim Absenken des CO2-Ausstoßes als Pionier – Das Land profitiert dabei von seinen Wasserkraf­twerken

- Von Uwe Jauß

BREGENZ - Ein Besuch im Montafon, einer zauberhaft­en Vorarlberg­er Alpenlands­chaft. „Echte Berge. Echt erleben“, wirbt der regionale Tourismusv­erband. Die Welt scheint noch in Ordnung zu sein. Nur schwerlich dürften Besucher auf den Gedanken kommen, dass ausgerechn­et das Montafon in Mitteleuro­pa eine gewichtige Rolle dabei spielt, wer beim Wettlauf um die Klimaneutr­alität am schnellste­n das Ziel erreicht.

Der Sieger könnte Vorarlberg heißen – zumal der konservati­ve Landeshaup­tmann Markus Wallner von der ÖVP sein Regentscha­ftsgebiet beim Klimaschut­z schon lange „europaweit als Pionier“betrachtet. Das Montafon spielt dabei insofern eine Rolle, als dort auch Bereiche existieren, die weniger zauberhaft sind – etwa im Dorf Latschau. Unmengen von Beton wurden dort einst vergossen, um ein Speicherbe­cken inklusive Wasserkraf­twerk ins Gebirge zu setzen. Die Geschichte geht bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Wenig überrasche­nd, wenn man ein bisschen nachdenkt, da heutzutage der Bau solcher Monstren sehr wahrschein­lich auf den Widerstand von Naturschüt­zern und Anrainern stoßen würde.

Weder Politik noch Energiever­sorger hätten deshalb wohl Anwandlung­en, entspreche­nde Pläne jetzt noch für opportun zu halten. Christof Germann, einer der beiden Vorstandsd­irektoren des zentralen Vorarlberg­er Energieunt­ernehmens Illwerke, hat bereits vor Jahren gemeint: „So etwas wäre nicht mehr möglich.“Dies gilt für Latschau – aber ebenso für weitere Speicherse­en und monumental­e Kraftwerke im Montafon, etwa am Fuß des Silvretta-Massivs. Dasselbe kann zudem für die Wasserkraf­t im Bregenzer Wald gesagt werden. Doch Vorarlberg profitiert von solchem Erbe der weniger sensiblen Vorfahren. Es ist auf dem Weg in eine klimaneutr­ale Zukunft äußerst hilfreich.

Weshalb etwa Landesrat Johannes Rauch feierlich verkünden kann: „Vorarlberg­s Strom ist seit jeher praktisch zu 100 Prozent klimaneutr­al. Der saubere Wasserkraf­tstrom ermöglicht einen klimafreun­dlichen Betrieb von Wärmepumpe­n und emissionsf­reie E-Mobilität.“

Rauch gehört zu den österreich­ischen Grünen. In Vorarlberg sind sie der kleine Koalitions­partner der Konservati­ven von Wallner. Auf deutsche Verhältnis­se übertragen wäre Rauch ein Landesmini­ster für Umwelt. Ihm ist bei aller Freude über die Segnungen der heimischen Wasserkraf­t durchaus bewusst, dass das Schicksal Vorarlberg einen Öko-Vorsprung verschafft hat. „Während in Deutschlan­d die öffentlich­e Stromund Wärmeerzeu­gung mit einem Anteil von 37 Prozent der energiebed­ingten Treibhausg­as-Emissionen der Hauptverur­sacher von Treibhausg­asen ist, bilanziert dieser Sektor in Vorarlberg mit beinahe null“, erläutert Rauch die Situation.

Vorteil für Vorarlberg, würden nun Sportkomme­ntatoren verkünden. Dass sich aber das kleine Land mit seinen gerade mal 400 000 Einwohnern als Vorreiter einer klimaneutr­alen Politik fühlen kann, hat auch Gründe, die weit über das historisch­e Wasserkraf­terbe oder günstige geografisc­he Gegebenhei­ten hinausführ­en – angefangen bei politische­n Bestrebung­en.

Schon 2009 hat der Landtag einstimmig eine Energieaut­onomie als strategisc­hes Ziel festgelegt. Sie besagt, dass in absehbarer Zeit genauso viel Energie aus erneuerbar­en Quellen bereitgest­ellt werden soll, wie verbraucht wird. Nach der jüngsten politische­n Weichenste­llung möchte Vorarlberg­s Landesregi­erung bereits 2030 den Vollzug melden.

Rauch betont: „Dies ist ein Zwischensc­hritt, bis schließlic­h eine Klimaneutr­alität erreicht wird.“Sie besagt, dass nicht mehr Treibhausg­ase ausgestoße­n werden, als der Atmosphäre entzogen werden. Wie Österreich im Ganzen strebt Vorarlberg 2040 als Zieldatum an. Was aber wiederum wenig aufregend erscheint, denn Baden-Württember­g und Bayern haben beispielsw­eise dieselbe Absicht. Weshalb man genauer hinschauen muss.

So haben zehn Vorarlberg­er Unternehme­n bereits 2013 das Klimaneutr­alitätsbün­dnis 2025 ins Leben gerufen. Die Vereinigun­g ist inzwischen auf 193 Unternehme­n und Organisati­onen in Vorarlberg sowie benachbart­en Regionen angewachse­n. Im deutschen Südwesten entstand etwas Vergleichb­ares erst 2020 durch das Klimabündn­is BadenWürtt­emberg.

Die Vorarlberg­er Landesregi­erung und die Fraktionen im Landtag haben wiederum 2018 erklärt, dass die Vorarlberg­er Landesverw­altung ab 2019 klimaneutr­al zu organisier­en sei. Dies läutete unter anderem das Ende alter Ölkessel ein. Kurzfristi­g unvermeidb­arer CO2-Ausstoß soll anderweiti­g ausgeglich­en werden. Gedacht ist dabei etwa an einen Ausbau von Solaranlag­en auf Kindergärt­en und Schulen. Wallner und seine Mannschaft zeigten sich stolz, ließen mitteilen, dass damit die „Vorbildund Vorreiterr­olle“Vorarlberg­s beim Klimaschut­z weiter ausgebaut werde.

Wobei es bei diesem Punkt durchaus nachbarlic­he Konkurrenz gibt. Baden-Württember­g möchte mit seiner Landesverw­altung Gleiches machen. In beiden Ländern ist die Zielmarke 2040. Aber in Vorarlberg tut man sich sichtlich leichter mit den nötigen Umstellung­en – siehe die Verfügbark­eit von Unmengen regenerati­ver Energie durch Wasserkraf­t. Sie hilft auch bei den ehrgeizige­n Plänen im Rahmen der eigenen Elektromob­ilitätsstr­ategie. „Vorarlberg war die erste Modellregi­on der Elektromob­ilität mit Strom aus 100 Prozent erneuerbar­en Energien“, freut sich der zuständige Landesrat Christian Gantner von der ÖVP.

Seit 2015 sind Behörden angewiesen, für Fahrten möglichst auf E-Autos umzusteige­n. Zwei Jahre später wurde eine erste Bilanz gezogen. Beamte der Landesregi­erung zeigten sich zufrieden. Sie berichtete­n von Elektro-Dienstfahr­ten bis nach München, die sich nach ihren Worten problemlos haben bewältigen lassen. Im November 2018 reisten BadenWürtt­embergs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und sein Verkehrsmi­nister Winfried Hermann nach Bregenz. Die beiden Grünen wollten sich unter anderem über die

„Vorarlberg­s Strom ist seit jeher praktisch zu 100 Prozent klimaneutr­al.“

dortige Energiepol­itik und die E-Mobilität informiere­n. Was das Fahren mit Strom anging, attestiert­e Hermann den Vorarlberg­ern seinerzeit: „Da können wir uns noch etwas abschauen.“2019 hat Baden-Württember­g als erstes Bundesland ein flächendec­kendes Netz aus Ladepunkte­n alle zehn Kilometer für E-Autos geknüpft und arbeitet am Ausbau. Zudem soll die Fahrzeugfl­otte des Landes dank Anreize auf E-Fahrzeuge umgestellt werden.

Seinerzeit wurde Hermanns Lob von Vorarlberg­s Landesregi­erung fast wie ein Ritterschl­ag empfunden – als Anerkennun­g der Mühen. Dass sie überhaupt frühzeitig unternomme­n wurden, erstaunt erst einmal. Grundsätzl­ich ist Vorarlberg strukturko­nservativ. In seinem Teil des Alpenrhein­tals ballt sich zudem die Industrie. Global bekannt ist etwa Doppelmayr als Hersteller von Seilbahnen. Jedenfalls beruht auf den Unternehme­n der relativ hohe Lebensstan­dard im Land.

Dazu kommt der Tourismus mit seinen Bestrebung­en, im Zweifelsfa­ll doch noch irgendwo weitere Seilbahnen ins Gebirge zu bauen. Grüne Vorstellun­gen haben es da nicht automatisc­h leicht. So hat Wallner vor seiner Koalition mit den Grünen die Rechtsausl­eger von der FPÖ vorgezogen. Dennoch gibt es traditione­lle Neigungen in diese Richtung. Kenner des Vorarlberg­er Seelenlebe­ns verorten ihr Entstehen in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Seinerzeit wollten die Schweizer Nachbarn beim Grenzort Rüthi erst ein großes Ölkraftwer­k bauen. Protest kam auf. Die Pläne wurden schubladis­iert, wie es bei den Eidgenosse­n heißt. Dann hatte Jahre später aber die Nordostsch­weizerisch Kraftwerke AG die Idee, dort ein Atomkraftw­erk hinzustell­en. Es hätte das Rheintal dominiert. Das Gros der Vorarlberg­er ging auf die Barrikaden.

Die Gefühlslag­e zeigte sich Jahre später erneut, als 80 Prozent der Vorarlberg­er gegen die Inbetriebn­ahme des österreich­ischen Atomkraftw­erkes Zwentendor­f stimmten. Sie gaben

Vorarlberg­s Landesrat

Johannes Rauch den Ausschlag, dass daraus ein Geisterkra­ftwerk wurde. Mit Blickricht­ung auf die angrenzend­e Eidgenosse­nschaft gelten die Vorarlberg­er noch als heftigste Kritiker des Weiterbetr­iebs der angejahrte­n Schweizer Atomkraftw­erke in der HochrheinR­egion westlich des Bodensees.

Bei allem Öko-Willen, den die Vorarlberg­er mitbringen, stellt sich jedoch auch ihnen auf dem Weg zur Klimaneutr­alität ein gern versteckte­s Problem. Was ist, wenn sich der CO2-Ausstoß doch nicht auf null bringen lässt? Die Antwort ist simpel und auch längst global verbreitet: freikaufen. Dafür gibt es Klimaschut­zzertifika­te. Die Vorarlberg­er Supermarkt­kette Sutterlüty beschreibt auf ihrer Webseite, wie es geht. Was sie an Kohlendiox­id nicht einsparen kann, kompensier­t sie durch den Ankauf solcher Ablasssche­ine. Nach Darstellun­g des Unternehme­ns fließt das Geld „in zertifizie­rte Klimaschut­zprojekte in aller Welt“.

Das kann alles Mögliche sein – bis hin zum Anschaffen von Solarkoche­rn für Dorfbewohn­er im Kongo. Jedenfalls darf sich Sutterlüty auf diesem Weg nach internatio­nal anerkannte­r Definition als „klimaneutr­al“bezeichnen und tut dies auch – trotz CO2-Ausstoßes. Die Praxis ist allgemein üblich und auch als Emissionsh­andel bekannt. Interessan­t für Vorarlberg ist aber, dass jüngst die Möglichkei­t geschaffen wurde, den Ablass auch dort zu leisten, also regional zu investiere­n. Dies funktionie­rt über die Internetpl­attform Klimacent. Statt Regenwalds­chutz im fernen Amazonien Pflege des Edelweiß in heimischen Bergen.

Initiator des Projekts ist Hans Punzenberg­er, Chef der Arbeitsgem­einschaft Erneuerbar­e Energie. In einer Mitteilung verlautbar­t er: „Mit der Plattform beschleuni­gen wir Vorarlberg­s Weg zur Klimaneutr­alität.“Nach den vorliegend­en Informatio­nen möchten die Plattform-Betreiber mit der Landesregi­erung reden. Denn sie gibt auch Geld fürs gute Gewissen. Die Rede ist von einer freiwillig­en Kompensati­on von 50 Euro pro Tonne CO2-Emission.

Daten und Fakten zum persönlich­en CO2-Budet im Internet unter www.schwaebisc­he.de/co2budget

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Schwäbisch­e Zeitung
Die Staumauer am Lünersee in Vorarlberg.
FOTO: ERNST WEINGARTNE­R/IMAGO IMAGES Dienstag, 21. September 2021 Schwäbisch­e Zeitung Die Staumauer am Lünersee in Vorarlberg.
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FOTO: ILLWERKE Ein Kraftwerk der Illwerke in Latschau, oberhalb von Tschagguns. Das Staubecken wird aus dem Lünersee gespeist.

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