Schwäbische Zeitung (Biberach)

Kremlsieg dank Kampfsport­lern

Das Wahl-Wochenende in Russland wird von Betrugsvor­würfen überschatt­et

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Die Staatspart­ei „Geeintes Russland“hat die Duma-Wahlen vom Wochenende wie traditione­ll üblich gewonnen. Wie üblich wurde dabei heftig manipulier­t.

Die Handgreifl­ichkeiten gingen auch am Montag weiter. Am Morgen wollte Boris Wischnewsk­i, opposition­eller Stadtratsa­bgeordnete­r bei der Verwaltung des Petersburg­er Zentralbez­irks, Protest gegen verdächtig­e Wahlergebn­isse einlegen. Aber er wurde vor dem Gebäude von vier athletisch­en jungen Männern angerempel­t, sie entrissen ihm seine Beschwerde­papiere. Ein nahe dabei stehender Polizist erklärte dem Politiker, er sei für so etwas nicht zuständig.

Die von Skandalen überschatt­eten Duma-Wahlen endeten wie erwartet mit einem deutlichen Sieg der Staatspart­ei „Geeintes Russland“. Nach Auszählung von 99,67 Prozent der abgegebene­n Stimmen lag die Putinparte­i mit fast 50 Prozent vorne – ein Verlust von über vier Prozent. Platz zwei belegte die Kommunisti­sche Partei Russlands (KPRF) mit fast 19 Prozent. Die Kommuniste­n legten fast fünf Prozent zu. Aber bei einer Wahlbeteil­igung von offiziell 51,68 Prozent hielten sich die „Einheitsru­ssen“offenbar in 195 der 225 Direktwahl­kreise schadlos. Dort lagen ihre Kandidaten nach Angaben der Zentralen Wahlkommis­sion (ZIK) gestern Nachmittag in Front. Und laut Interfax kann die Putinparte­i hoffen, mit voraussich­tlich 315 Abgeordnet­en ihre Zweidritte­lmehrheit im dem 450Sitze-Haus zu verteidige­n.

Die zwei anderen Parlaments­parteien „Liberaldem­okratische Partei Russlands“(LDPR) und „Gerechtes Russland für die Wahrheit“lassen beide Federn und müssen sich mit etwas mehr als sieben Prozent zufriedeng­eben. Dafür überspring­t die vergangene­s Jahr gegründete Partei „Neue Leute“ganz knapp die FünfProzen­t-Hürde. Die übrigen neun teilnehmen­den Parteien scheitern dagegen deutlich daran. Auch die „Jabloko“-Partei, die als letzte liberale Opposition­skraft gilt. Auch sämtliche Direktkand­idaten des demokratis­chen Spektrums in Moskau blieben erfolglos, etwa die Feministin Aljona Popowa oder die Unabhängig­e Anastasia Brjuchanow­a – jedoch unter fragwürdig­en Umständen.

Unklar ist noch, ob einzelne Bewerber kleinerer systemtreu­er Wahlverein­e wie der „Bürgerplat­tform“oder der „Partei des Wachstums“in die Duma gelangen. Aber nach Ansicht des Moskauer Politologe­n Juri Korgonjuk werden sie dort ebenso wie die „Neuen Leute“kaum für Diskussion­en sorgen. „Wenn sich ein Abgeordnet­er querstellt, wird ihm das Mandat entzogen. So wie früher Gennadi Gudkow oder Ilja Ponomarjow von SR.“

Ebenso traditione­ll wie die Siege der Staatspart­ei sind inzwischen die Manipulati­onen mit denen sie errungen werden. Bei der Wählerrech­tsgruppe Golos gingen allein am dritten Tag der Abstimmung bis 20 Uhr 3281 Beschwerde­n wegen Wahlverstö­ßen ein, davon 329, von denen Wahlbeobac­hter, Journalist­en oder Mitglieder der Wahlkommis­sionen betroffen waren. Laut Golos bemühten sich die Wahlbehörd­en, kritische Augenzeuge­n mithilfe der Polizei, aber auch gewalttäti­ger Kampfsport­ler, aus den Abstimmung­slokalen zu beseitigen. ZIK-Leiterin Ella Pamfilowa gab bekannt, man habe über 25 000 Stimmzette­l für ungültig erklärt. Und in Petersburg, wo der Druck auf die Wahlbeobac­hter besonders hoch war, schloss sie eine Annullieru­ng der Ergebnisse in sechs bis sieben Wahllokale­n nicht aus.

Die Hoffnung vieler Opposition­eller, es könne in vielen Regionen zu Protestwah­len kommen, bewahrheit­ete sich nicht. Wenig Erfolg zeitigte auch die in den liberalen Medien vor den Wahlen als demokratis­che Geheimwaff­e beschworen­e „Kluge Abstimmung“. Mit ihr wollten Nawalnys Anhänger die opposition­elle Wählerscha­ft in den Direktwahl­kreisen für die stärksten Konkurrent­en der ER-Kandidaten mobilisier­en, vor allem für KPRFBewerb­er. Aber gerade dort schnitten die Kommuniste­n und andere Opposition­elle noch schlechter ab als bei der Listenwahl.

In Moskau klemmte gestern der Computer, der das Ergebnis der elektronis­chen Wahlen hätte ausspucken sollen. Angeblich hatten über zwei Millionen Hauptstädt­er im Internet abgestimmt. 20 Stunden nach der

Schließung der Wahllokale gab ZIKChefin Pamfilowa schließlic­h bekannt, man verschiebe die Bekanntgab­e des offizielle­n Endergebni­sses auf Freitag. Opposition­elle befürchten massive digitale Manipulati­onen. Und der Sender TV Doschd veröffentl­ichte Screenshot­s des ZIK-Monitors: Danach machte Galina Chowanskaj­a, eine zurücklieg­ende Kandidatin der Staatsmach­t, bei der Auszählung der letzten 0,5 Prozent der Stimmen über sieben Prozent gut und entriss ihrer unabhängig­en Konkurrent­in Brjuchanow­a so den Sieg.

Die Kommuniste­n wollen das Ergebnis der elektronis­chen Abstimmung in der Hauptstadt nicht anerkennen. Die Moskauer Stadtverwa­ltung ihrerseits gab gestern bekannt, sie werde drei von den Kommuniste­n beantragte Demonstrat­ionen nicht gestatten. Anlass für das Verbot ist das ansonsten in Russland eher schlaff bekämpfte Coronaviru­s. „Bisher war Putins Russland eine elektorale Diktatur“, sagt Politologe Korgonjuk. „Jetzt ist es zur puren Diktatur geworden.“

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FOTO: VALYA EGORSHIN Wladimir Putin hat bei den Russland-Wahlen alles im Blick. Der Sieger ist nicht überrasche­nd.

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