Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen“
Ex-Caritas-Generalsekretär spricht über Umbau des Sozialstaats – Welche Versäumnisse besonders teuer werden
BERLIN - Der Autor und ehemalige Generalsekretär der Caritas, Georg Cremer, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen der Entwicklungsund Sozialpolitik. Im Interview erklärt er, wie der Sozialstaat neu ausgerichtet werden müsste.
Im Wahlkampf wird nicht wirklich viel über soziale Ungleichheit und Benachteiligung diskutiert und wenn, dann nur über Finanzierungskonzepte.
Natürlich dominieren im Bundestagswahlkampf Themen der Mitte und in der sozialpolitischen Debatte dominiert eigentlich immer der Aspekt der Umverteilung.
Wenn man Ihr neues Buch „Sozial ist, was stark macht“liest, würden Sie aber etwas anders empfehlen ... Ich bin in keiner Weise gegen einen umverteilenden Sozialstaat. Wir haben eine Marktwirtschaft und diese Marktwirtschaft erzeugt Ungleichheit und damit diese Ungleichheit nicht zu groß wird, brauchen wir ein System der Umverteilung. Geld allein aber kann Gerechtigkeit nicht erzwingen.
Was hilft stattdessen?
Ich setze auf einen Befähigungsansatz. Was also ist erforderlich, damit alle Menschen ihre Potenziale entfalten können und Handlungsoptionen für ein gelingendes Leben entwickeln? Wenn wir dem Zufall der Geburt entgegenwirken wollen, dann kann das eben nicht alleine mit Umverteilung geschehen, sondern dazu braucht es ein besser verzahntes Bildungsund Sozialsystem.
Sie beziehen sich dabei auf ein Konzept des Nobelpreisträgers Amartya Sen, der viel zu Armut in Entwicklungsländern geforscht hat ...
Der Befähigungsansatz ist überwiegend für Entwicklungsländer genutzt worden. Aber er kann auch in Deutschland produktiv genutzt werden, den Diskurs über soziale Gerechtigkeit zu erweitern. Es geht nicht alleine um Chancengerechtigkeit. In einem engen Verständnis bedeutet das ja letztlich nur, dass der Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten oder Jobs nach Leistung erfolgt. Die Frage ist aber, wie Menschen überhaupt in die Lage kommen, etwas leisten zu können. Tut das Sozialund Bildungssystem das Mögliche, dass auch Kinder aus armen und benachteiligten Familien ihre Fähigkeiten entfalten können? Der internationale Vergleich zeigt: Da ist mehr möglich.
Was muss bei den Schulen passieren?
Keine Partei kann es sich leisten, das Gymnasium anzutasten. Man könnte aber die nicht-gymnasialen Schulformen deutlich besser ausstatten: mit Personal, mit mehr Förderunterricht, Unterricht in Kleingruppen, einer engeren Verzahnung mit der Sozialarbeit, kleinere Klassen. Dann würde die nicht-gymnasiale Schulform
attraktiv, vielleicht sogar für Eltern aus dem bildungsbürgerlichen Milieu. Das setzt natürlich voraus, dass die bürgerliche Mitte akzeptiert, dass Kinder aus benachteiligten Milieus mehr Ressourcen erhalten als ihre eigenen Kinder.
Wie sollen Menschen sich im Sozialsystem zurechtfinden?
Der Sozialstaat ist komplex, vielfältige Zuständigkeiten erschweren die Orientierung. Es gibt Kooperationsblockaden. Sie abzubauen, wäre eine dringende Reformaufgabe nach der Bundestagswahl.
Wie sollen die Angebote zu den betroffenen Menschen kommen? Viele Mütter gehen nicht zu Beratungsstellen, aber jede Mutter geht zum Kinderarzt. In sozialen Brennpunkten könnte dort doch auch eine Sozialarbeiterin tätig sein, die ansprechbar ist. So etwas scheitert derzeit an Konflikten darüber, wer die Kosten übernimmt. Weder Kommunen noch Krankenkassen halten sich für zuständig.
Wie überwindet man dieses Problem?
Man braucht zumindest gesetzliche Änderungen, damit die Kosten präventiver sozialer Arbeit rechtssicher finanziert werden können – und zwar nicht als Projekte, sondern als Dauerleistung der Systeme. Danach kommt es sehr darauf an, wie gut die örtlichen Kräfte zusammenarbeiten, die Schulen, das Sozialamt, das Jobcenter, die Wohlfahrtsverbände, die örtlichen Vereine. Wie wichtig das ist, hat sich in der Pandemie gezeigt.
Georg Cremer (Foto: Imago) war von 2000 bis Juni 2017
Klingt kompliziert.
Das mag sein, aber wir sehen doch, dass wir oft diejenigen nicht erreichen, die am dringendsten auf Hilfe angewiesen sind. Die Entscheidung, ob und welche Hilfe er annimmt, bleibt natürlich bei jedem Einzelnen. Aber wir müssen uns die Frage stellen, wie der Sozialstaat am unteren Rand wirksamer werden kann.
Haben Sie mal überschlagen, was das kostet?
Ich glaube, dass das Teuerste für den Sozialstaat ist, wenn ein Fünftel der Kinder weiterhin nicht vernünftig lesen kann und somit auf eine Ausbildung vorbereitet ist.