Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Krautrock-Propheten aus Deutschland
Christoph Dallach stellt in seinem Buch Geschichten um Bands wie Can, Tangerine Dream und Amon Düül vor
Verkehrte Welt bei „Wetten, dass..?“: 1997 war David Bowie bei Thomas Gottschalk zu Gast und schwärmte, wie sehr ihn die deutsche Musik der 1970er-Jahre beeinflusst habe. Als er einige seiner Lieblingsgruppen auflistete, war die Reaktion jedoch verhalten: Kraftwerk sorgten noch für etwas vertrautes Nicken, Harmonia nicht nur bei Mit-Gast Til Schweiger für fragende Blicke und auf die Frage „Kennen Sie Neu!“meldete sich genau ein Zuschauer im Publikum.
So überstrapaziert das Bild vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, auch sein mag, so sehr trifft es auf die meisten Musiker, die unter das hochumstrittene Label „Krautrock“gepackt werden, zu. Da steht etwa von Lüül eine Wachsfigur im „Tokyo Tower Wax Museum“. Lüül? Der Gitarrist spielte einst bei der Rockband Agitation Free Gitarre, auf Einladung des Goethe-Instituts reiste man in den frühen 1970er-Jahren um die Welt und trat im kulturellen Programm der olympischen Spiele in München auf.
Einen tiefen Einblick in den weitverzweigten Kosmos der progressiven deutschen Musik der 1960er- und 1970er-Jahre bietet der Musikjournalist Christoph Dallach nun auf gut 500 Seiten. Chronologisch liefert er somit gewissermaßen die Vorgeschichte des vor 20 Jahren erschienenen Buchs „Verschwende Deine Jugend“, in dem Jürgen Teipel tief in die deutsche Punk- und New-Wave-Szene von 1976 bis 1983 eintauchte. Auch die Herangehensweise ist sehr ähnlich, denn beide Bücher folgen dem „oral history“-Ansatz, lassen also viele Zeitzeugen zu Wort kommen – und zwar ausschließlich diese. Präsentiert wird somit eine Collage aus Interview-Ausschnitten, die sich mal ergänzen, gelegentlich auch widersprechen und unter mehreren Oberthemen zusammengestellt sind. Bei Dallach angelt sich das Buch an drei
Jahrzehnten entlang: die Fünfziger, die Sechziger, die Siebziger. Die einzelnen Kapitel verhandeln mal Themen wie „Haare“, „WGs“, „Drogen“oder „Staatsfeinde“, einige widmen sich auch besonders einflussreichen Bands wie Can, Tangerine Dream, Amon Düül (I und II) und eben Kraftwerk und Neu!
So eignet sich der Wälzer auch durchaus zum Kreuz- und Querlesen, in der Gesamtheit ergibt sich dann ein eindrucksvolles Bild nicht nur der deutschen Musik-, sondern auch Kultur- und Zeitgeschichte. Die meisten der Musiker waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgewachsen. Auffallend ist, dass das Spielen in den Ruinen des zerbombten Deutschlands durchgehend als spannendes Kindheitsabenteuer in den Erinnerungen fortlebt. Allerdings lag, so der Konsens, auch das kulturelle Erbe Deutschlands in Trümmern und es galt, etwas Neues, Eigenes aufzubauen, das sich auch nicht an amerikanischen oder britischen Vorbildern orientierte. Die Wege dorthin waren vielfältig. Mehrere Mitglieder von Can waren Schüler des Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen, andere wie das Kommunen-Projekt Amon Düül legten ohne musikalische Vorbildung einfach kreativ-dilettantisch los.
Über die ein oder andere ideologische Verirrung mag man heute schmunzeln, dennoch wird immer wieder der enorme Aufbruchgeist der Zeit deutlich. Beeindruckend auch, wie viel künstlerische Freiheit seinerzeit gefördert wurde – auch weit vom Mainstream entfernte Bands erhielten teils beachtliche Summen von Plattenfirmen, Rundfunkanstalten und öffentlichen Einrichtungen, um über Monate hinweg nach neuen Ausdrucksformen zu suchen.
Christoph Dallach: Future
Sounds: Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp, 511 Seiten, 18 Euro.