Schwäbische Zeitung (Biberach)
Umjubeltes Piano-Konzert
Alexander Krichel spielt Mussorgsky
ULM - Welch ein Unterschied: Als der Weltklasse-Pianist im Februar im Stadthaus sein drittes Benefizkonzert zugunsten des Ulmer Hospizes gab, war er allein im Stadthaussaal, und Kameras streamten das Konzert in alle Welt, bis zu Zuhörern in den USA und in Asien. Bei seinem Extrakonzert am Sonntag erlebte der in Hamburg geborene Echo-Klassik-Preisträger Alexander Krichel eine komplett andere Atmosphäre, die in der Zeit der Pandemie eine ungewöhnliche war – ein fast komplett gefüllter Saal, Standing Ovations und Bravo-Rufe.
Dabei hatte sein aus dem Stadthaus gestreamtes Februar-Konzert sogar Folgen für sein neues Album, das am 1. Oktober erscheint – die Entscheidung, Modest Mussorgskys Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“George Enescus zweiter Suite gegenüberzustellen, fiel nach jenem StadthausKonzert, erzählt der Pianist.
Diese Werke präsentierte Krichel am Sonntag beim Extrakonzert zugunsten des künftigen Hospizgartens – virtuos die sehr selten gespielte Suite des rumänischen Impressionisten Enescu, die in ihren vier Sätzen auf barocke Tanzstücke zurückgreift, sie aber individuell, emotional, im Geist des frühen 20. Jahrhunderts (die Suite entstand zwischen 1912 und 1914) interpretiert.
Seine geniale Meisterschaft und seine Präsenz spielte Krichel in den zehn „Bildern einer Ausstellung“aus, die er dem Publikum vorab in ihrer Bedeutung als Gesamtwerk (die Trauer Mussorgskys über den Tod seines Freundes) und in der philosophischspirituellen Bedeutung erläuterte, wie er sie spürt.
Wobei die Interpretation vor allem der letzten drei Bilder – die Todesbilder der „Katakomben“, die Höllenangst bei der Hütte der menschenfressenden Baba Yaga und der überstrahlende Glanz des Tores von Kiew, das nichts tut, sondern einfach existiert – in ihm selbst eine große Tiefe ausgelöst haben, sagte Krichel später.
Seine Interpretation, enorm plastisch, wahrhaftig, extrem emotional und über die Ohren Bilder schaffend faszinierte die Zuhörer im Stadthaus derart, dass das Publikum im Verklingen des letzten Tons aufsprang und stehend applaudierte, darunter auch Ulms neuer GMD Felix Bender. Eigentlich, schilderte Krichel, sei mit diesem Werk alles gesagt und es deshalb fast unmöglich, eine Zugabe zu spielen – und spielte dennoch eine Nocturne des Komponisten Alexander Borodin.
Am Tag vor dem Konzert hatte Krichel in Ulm vier jungen Menschen, darunter einer Ulmerin, Meisterkurse gegeben. Eine Bewerbung für seinen Kurs in Ulm im nächsten Jahr hatte es bereits im Anschluss an sein Konzert im Stadthaus gegeben. Für ihn ist es eine zentrale Aufgabe, jungen Menschen Musik zu vermitteln. „Das Wichtigste ist, dass man versucht, sie zu inspirieren“, sagt der 32-Jährige. Dazu gehöre es, herauszugehen aus der Sicht, dass es beim Klavier vor allem um die Vermittlung des Technischen geht.
In Schanghai machte er sogar die Erfahrung, dass bei Meisterkursen für einige wenige Studenten weitere 120 Studenten zuhören wollen. Anders in Ulm, wo ausgewählte junge Talente je 90 Minuten mit dem Pianisten alleine hatten, die er nutzte, um vor allem zu vermitteln, dass Musik Menschen berührt. Ein Beispiel: Das Stampfen der Ochsen vor dem Karren im vierten der „Bilder einer Ausstellung“löst andere Bilder aus als das bedrohliche, ängstigende Sein der Hexe Baba Yaga.