Schwäbische Zeitung (Biberach)
Alle sind käuflich
Saisoneröffnung am Residenztheater München vor vollen Rängen – Simon Stone analysiert mit Unterstützung von Horváth „Unsere Zeit“
MÜNCHEN - Der in Basel geborene und in München lebende Australier Simon Stone ist nicht nur Regisseur der Netflix-Serie „Die Ausgrabung“, sondern auch Autor von Theaterabenden, in denen er Klassiker von Euripides über Shakespeare bis hin zu Tschechow als Startrampe für Erkundungen der aufgewühlten Gegenwart nutzt. „Unsere Zeit“ist seine bislang umfangreichste Tiefenbohrung im Leben heutiger Menschen, die sich scheinbar völlig dem Diktat eines allumfassenden Konsums unterworfenen haben. Sechs Stunden dauert die Realitätserkundung ausgehend von Angela Merkels „Wir schaffen das“bis hin zur jüngsten Bankrotterklärung des Westens in Kabul. Die Uraufführung am Münchner Residenztheater war allerdings nicht nur ein dramatischer Parcours entlang aller aktuell strittigen Themen, sondern auch ein Fest der Wiedereröffnung in Zeiten der Pandemie. Zum ersten Mal nach langer Zeit gab es Theater vor vollen Zuschauerreihen.
Ist es tatsächlich so, dass wir alle käuflich sind und rund um die Uhr alles kaufen wollen, was uns zu einem anscheinend erfüllten Leben fehlt? Und haben wir nicht recht, wenn wir der Ansicht sind, gerade in Zeiten von Covid-19 stünden uns ein bisschen Spaß und wenigstens ein
Stündchen Ablenkung zu? In der Weimarer Republik und zu Zeiten Ödön von Horváths fand man all das auf der Kirmes. Man traf sich, taxierte und wurde taxiert, wer denn nun wo steht auf der Hühnerleiter des merkantilen Gemeinwesens. Früher war das noch etwas übersichtlicher, heute wird die Grenze zwischen Arm und Reich immer wieder neu vermessen. Ein Ort, wo alle etwas kaufen und eventuell auch sich selbst verkaufen wollen, steht derzeit imposant auf der Drehbühne des Residenztheaters.
Blanca Añóns Nachasayl Bühnenbild für Simon Stones Menschendschungel ist ein Tankstellen-Shop. Dass es hier alles gibt von der Slipeinlage bis zur Salzbrezel sieht man in Nahaufnahme auf zwei großen Monitoren rechts und links oben auf der Bühne. Es werden aber nicht nur Waren vorgeführt, man sieht auch Details all dessen, was sich in und um die gläserne Markttanke abspielt. Sie dreht sich langsam und empfängt rund um die Uhr all die einsamen Menschenwesen, die eines am meisten vermissen: ein Gegenüber und etwas Ansprache,
ein tröstendes Wort, ein kaltes Bier oder eine heiße Nummer.
Eine, die das erkannt hat, ist Julia (Liliane Amuat), die je nach Kunde für eine Stunde bis zu 400 und pro Nacht bis zu 3000 Euro veranschlagt. Felix (Florian Jahr) könnte sich das locker leisten, führt die geschäftstüchtige Studentin aber lieber einem der kaum volljährigen Fußballprofis zu, die er gerade an den 1. FC Bayern vermittelt hat. Für die Jungprofis ist Julias Nachtgage nicht einmal ein Pickel auf der Verlaufskurve ihres Gehaltskontos, ganz im Gegensatz zu Massimo (Nicola Mastroberardino), dem es eigentlich ganz gut gehen könnte. Er war Besitzer einer Autowaschanlage, dann hat er alles verloren. Nun wühlt er in Abfallcontainern und hält Reden, die schön wirrphilosophisch klingen.
Simon Stone denunziert keine der Figuren. Man kann nachvollziehen, dass alle ein besseres Leben anstreben, aber damit leben müssen, dass Träume in der Regel nur Träume sind. Neue Erkenntnisse zum Zustand des mitteleuropäischen Menschen liefert Stone nicht. In seinen der Alltäglichkeit abgelauschten Dialogen scheint aber auf, wie banal scheiternde Lebensentwürfe wirken und wie schmerzhaft sie für diejenigen sind, denen sie widerfahren.
Inszeniert ist das grandios und als habe Stone die ineinander verwobenen Lebensläufe von 16 Menschen als sechsteilige Netflix-Serie konzipiert, dann aber doch einen sechsstündigen Theaterabend daraus gemacht. Vieles geschieht superschnell und wie beiläufig, es entstehen aber auch intensive Situationen. Das gilt vor allem, wenn das vermeintlich starke Geschlecht abgewatscht wird von der Sozialarbeiterin Ruth (Barbara Horvath). Sie geißelt das Selbstmitleid der Männer, die bis vor Kurzem hemmungslos gockelten, jetzt aber wie kastrierte Hähnchen piepsen. Das Gejammere der betroffenen Männer ist dabei mindestens genauso unerträglich wie die Selbstgerechtigkeit der Frauen, die gerade toxische Allgemeinplätze verbreiten.
Barbara Horvath erntete Szenenapplaus für die Brandrede und am Ende gab es Ovationen für alle oben auf der Bühne. Sie galten nicht nur einem Theaterabend, der trotz einiger Längen im weitgehend monologischen dritten Teil überaus gelungen war. Es war, als hätten die Zuschauer nach Monaten der Pandemie aufgeatmet und als würden sie auf keinen Fall die Zeit vermissen, in der es Theater nur als Stream oder hin und wieder mit halb gefüllten Zuschauerräumen gab.
Infos, Tickets und weitere Aufführungstermine unter www. residenztheater.de