Schwäbische Zeitung (Biberach)
Auf der Suche nach der neuen Stadt
Das Ladensterben zwingt Kommunen zum Umdenken – Mischnutzungen sollen die City am Leben halten
BERLIN - Lange Fronten mit Folien beklebter Scheiben – das Einkaufszentrum Boulevard auf der Berliner Einkaufsmeile Schoßstraße bieten teilweise einen tristen Anblick. Die Besucher laufen an vielen leerstehenden Räumen vorbei. Nur die großen Ketten und Fachmärkte üben eine große Anziehungskraft aus. Der Rückzug des Einzelhandels aus der Innenstadt wird hier offensichtlich. Noch düsterer sieht es in vielen kleineren und mittleren Städte – auch in Baden-Württemberg und Bayern aus. Vor allem Modegeschäfte hat es in den vergangenen Monaten in Friedrichshafen am Bodensee, im oberschwäbischen Bad Saulgau, auf der Ostalb, in Ulm, Kempten und im Schwarzwald getroffen. In manchen Orten herrscht die Tristesse des Leerstands. Wo keine Geschäfte geöffnet sind, geht auch niemand gerne hin. Das ist landauf, landab immer häufiger der Fall.
„Studien gehen davon aus, dass in den nächsten drei Jahren zwischen 80 000 und 120 000 Geschäfte aufgeben müssen“, sagt Michael Reink Standortexperte des Handelsverbands (HDE). Schon im vergangenen Jahrzehnt haben fast 40 000 Inhaber ihren Laden geschlossen. Vor allem kleine Fachgeschäfte halten nicht mehr mit. Die Pandemie hat zudem einen Boom beim Onlinehandel ausgelöst. Die Kundschaft mied die Innenstädte. Noch rollt die Pleitewelle nicht in über die Zentren. Doch die Lage ist prekär. Viele Geschäfte schieben Reink zufolge noch Mietrückstände aus dem vergangenen Jahr vor sich her. Es fehlt das Geld für Investitionen in ein attraktives Konsumumfeld.
Die Fachleute glauben nicht mehr daran, dass der Handel die Innenstädte vor der Ödnis retten kann. Da müssen andere Lösungen her, weiß auch der Chef des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy. „Indem wir die Innenstädte neu denken, können wir die Strahlkraft der Stadtzentren stärken“, hofft er. Gute Beispiele für die Reanimierung von Zentren gibt es in Deutschland schon. So hat sich die Stadt Siegen schon im vergangenen Jahrzehnt um mehr Leben in der City bemüht. Der zuvor zugunsten von Parkraum in die Tiefe versenkte
Fluss wurde wieder ans Licht geholt. Attraktive Flächen locken Besucher an, die Universität zog direkt in die Innenstadt.
Auch Dedy sieht im Umbau der Innenstädte eine Chance. „Wir müssen den Handel neu kombinieren, etwa mit Werkstätten für Handwerker, Co-Working-Spaces oder regionalen Händlern für nachhaltige Waren“, sagt er, „ auch Schulen, Kitas, Bibliotheken und Ùniversitäten können die Stadtzentren beleben.“Doch über Nacht ist dieser Wandel nicht zu schaffen. Denn die notwendige Stadtplanung mit einer umfangreichen Beteiligung der Bürger kostet Zeit. Und auch die Immobilienpreise stehen einer Belebung im Weg. Das Mietniveau dürfe nicht nur auf Menschen
mit dem ganz großen Geldbeutel ausgerichtet sein“, fordert Dedy: „Mieten runter, Menschen rein.“
Praktische Beispiele für eine erfolgreiche Wiederbelebung gibt es schon. Bremerhaven hat zum Beispiel ein ehemaliges Karstadthaus gekauft. Nun soll der „faule Zahn“der Innenstadt, wie es Oberbürgermeister Melf Grantz nennt, gezogen und durch eine attraktive öffentliche Anlage mit einer Mischnutzung ersetzt werden. In Paris sichert eine von der Stadt geförderte Organisation, dass in leerstehende Geschäfte nur passende Einzelhändler einziehen, die bei einer erfolgreichen Ansiedlung ein Vorkaufsrecht für den Laden erhalten. Im oberschwäbischen Oberzentrum Ravensburg betreibt die Stadt aktives Leerstandsmanagement und hat einen Wettbewerb zur Belebung der Innenstadt ausgelobt.
„Die Mittelstädte sind am stärksten betroffen“, erläutert Reink, „dort müssen für die Innenstädte neue Ideen entwickelt werden.“Denn diese Kommunen werden vom Zeitgeist im Handel besonders betroffen. Das Einzugsgebiet des Handels dort ist in der Regel die ländliche Umgebung. Doch das Angebot ist aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl von Konsumenten eingeschränkt. Die Kunden akzeptieren diese Einschränkungen aber nicht und bestellen die gewünschte Ware entweder im Internet oder fahren gleich in die nächste Großstadt zum
Shoppen. Die Folgen sind gravierend. „Man muss viele Fußgängerzonen verkürzen“, glaubt Reink, „da kommt auf die Stadtplanung eine hohe Verantwortung zu“.
Allein werden die Kommunen diese Aufgabe nicht meistern. Der Bund hat zwar zunächst ein Förderprogramm von 250 Millionen Euro für Modellprojekte zur Belebung der Innenstädte aufgelegt. Doch das reicht nach Einschätzung des Städtetags bei Weitem nicht aus. „Wir brauchen 500 Millionen Euro jährlich über eine Laufzeit von fünf Jahren“, fordert Dedy. Die neue Bundesregierung müsse aus dem Sofortprogramm eine verlässliche Unterstützung über einen längeren Zeitraum machen.