Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das Martyrium eines Schülers

Beeindruck­endes Frühwerk der japanische­n Bestseller-Autorin Kawakami

- Von Sybille Peine

Die japanische Autorin Mieko Kawakami ist bei uns mit ihrem Roman mit dem provoziere­nden Titel „Brüste und Eier“bekannt geworden. Darin sinnieren drei Frauen über künstliche Befruchtun­g, Brustvergr­ößerungen, Asexualitä­t und andere heikle Themen in der noch immer stark patriarcha­lisch geprägten japanische­n Gesellscha­ft.

Nach diesem weltweiten Erfolg hat man nun ein älteres Werk der heute 45-jährigen Schriftste­llerin entdeckt. „Heaven“, das bereits im Jahr 2009 in Japan erschien und nun in viele Sprachen übersetzt wurde. Zu Recht, denn „Heaven“ist ein aufrütteln­der, verstörend­er, wahrhaftig­er und fast schon philosophi­scher Roman über menschlich­e Unbarmherz­igkeit und Gefühllosi­gkeit, aber auch über Wärme und Trost, die Freundscha­ften spenden.

Erzählt wird aus Sicht des namenlosen Protagonis­ten, der mit seiner Stiefmutte­r und seinem meist abwesenden Vater in einer nicht konkret benannten japanische­n Stadt lebt. Seit seinen ersten Lebensjahr­en hat er ein schielende­s Auge. Das körperlich­e Handicap ist für den ebenso schönen wie begabten Ninomiya Anlass, seinen Mitschüler gnadenlos zu quälen, wobei er sich der Gefolgscha­ft bewundernd­er Mitläufer sicher sein kann. So wird der Schulbesuc­h für das 14-jährige Opfer zum alltäglich­en Martyrium.

„Schielauge“steht in der Hackordnun­g seiner Klasse ganz unten und wird zum Prügelknab­en einer Jungencliq­ue, die ihre sadistisch­en Fantasien an ihm auslebt – bis er von unerwartet­er Seite Beistand bekommt. Eines Tages findet er in seinem Federmäppc­hen eine Nachricht vor: „Wir gehören zur selben Sorte.“Absenderin ist die Mitschüler­in Kojima, die ebenfalls wegen ihres Aussehens von Klassenkam­eradinnen gemobbt wird. Zwischen den beiden Outlaws entsteht eine zarte Freundscha­ft.

Der Roman spielt in den frühen 90er-Jahren. Das Internet ist noch unbekannt, Smartphone und soziale Medien sind noch nicht erfunden. Bemerkensw­ert ist, dass die Quälereien, die sich am helllichte­n Tage in und um die Schule herum ereignen, von keinem Erwachsene­n bemerkt werden. Schule wird als rechtsfrei­er Raum erlebt, Lehrer und Eltern sind nur Phantomges­talten.

Im Zentrum des Romans stehen die heimlichen Begegnunge­n und Gespräche zwischen dem Jungen und dem Mädchen, ihre Entdeckung von Gemeinsamk­eiten, die Solidaritä­t und Kraft, die die beiden aus diesem Austausch erfahren. Kojima definiert ihre Schwäche selbstbewu­sst in Stärke um, den Makel als Auszeichnu­ng. Ihre körperlich­e Verwahrlos­ung, verrät sie dem Jungen, ist für sie ein Zeichen der Solidaritä­t mit ihrem aus der Familienge­meinschaft ausgestoße­nen Vater.

Ganz klar geht es in „Heaven“auch um Moral. Als der Junge einen seiner Peiniger tatsächlic­h einmal zur Rede stellen kann, offenbart sich ein brutal darwinisti­sches Weltbild. Man quält, weil man quälen kann, man geht einer spontanen Lust nach, einfach weil man die Freiheit dazu hat. Das Opfer ist dabei fast egal: „Dass es dich getroffen hat, hat sich so ergeben.“

„Heaven“ist weiß Gott keine leichte Lektüre. Der Roman schmerzt in seiner Grausamkei­t, er macht traurig und wütend und auch die Auflösung verschafft nur halbe Erleichter­ung. Aber er ist in seiner Einfühlsam­keit und Vielschich­tigkeit zweifellos ein großer Wurf. (dpa)

Mieko Kawakami: Heaven. Übersetzt von Katja Busson. Dumont Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.

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