Schwäbische Zeitung (Biberach)
Neu im Kino
Das Schachspiel als Fluchtort aus den Qualen des Alltags – das ist ein Thema, mit dem sich derzeit ein größeres Publikum ins Kino locken lässt. Schließlich hat das Schachspiel seit der Netflix-Erfolgsserie „Das Damengambit“enorm an Popularität gewonnen. Dort brillierte Anya Taylor-Joy als junges Schachgenie Elizabeth Harmon, das während des Spiels ihren Dämonen entkommen konnte.
Die Serie wurde zu größeren Teilen in Berlin gedreht, und Philipp Stölzl hat für seinen Film einige Requisiten von ihr übernommen. Im Vergleich zum letztlich doch hoffnungsvollen Drama über die junge Frau ist die Verfilmung von Stefan Zweigs letztem und erfolgreichsten Werk allerdings deutlich düsterer ausgefallen. Eine Parallele zu TaylorJoys Figur findet sich hier am ehesten im amtierenden Schachweltmeister Mirko Czentovic (Albrecht Schuch), einem ungarischen Waisenkind aus einfachsten Verhältnissen, der für Geld auch gegen Amateure antritt.
Im Vergleich zur Vorlage spielt er bei Stölzl allerdings eine kleinere Rolle, auch der Erzähler aus der Novelle wurde gestrichen, sodass im Film das Geschehen konsequent aus der Perspektive des Notars Josef Bartok (Oliver Masucci) gezeigt wird. Dieser betritt zu Beginn für die lange Überfahrt von Europa nach New York ein Schiff, auf dem er vor den Nazis fliehen und auf das Schachgenie treffen wird. Zunächst begrüßt ihn aber seine Frau Anna (Birgit Minichmayr) und verspricht, dass das neue Leben in Übersee so wie früher werden werde. Darauf reagiert der sichtlich gezeichnete Bartok jedoch mit der Frage: „Wie war es früher?“
Früher, da war dieser Notar ein einflussreiches und lebenslustiges Mitglied der Wiener Oberschicht. Im Österreich der 1930er-Jahre verwaltete er beachtliche Vermögenswerte von Adel und Klerus. Bartok und seine Frau fühlen sich zunächst trotz des heraufziehenden Faschismus sicher in ihrer gehobenen Position und begegnen der Bedrohung mit geistreicher Ironie. Als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschiert, ist es für eine Flucht fast schon zu spät. Während Anna aufbricht, kehrt Josef in sein Haus zurück, um Dokumente zu vernichten – und wird verhaftet. Die neuen Machthaber haben ein großes Interesse am Zugang zu den Vermögenswerten, doch Bartok verweigert die Aussage.
Darauf wird er im noblen Hotel Metropol in einem Zimmer eingesperrt. An und für sich ein komfortables Gefängnis, doch Gestapo-Leiter Böhm (Albrecht Schuch, Darsteller des Schachweltmeisters, in einer Doppelrolle) hat für seinen Gefangenen eine „Spezialbehandlung“festgelegt. Diese basiert auf fast vollständiger Isolation, wenn der Notar mit einem Menschen sprechen will, dann nur, wenn er seine Geheimnisse offenbart.
Für den geselligen und kulturbeflissenen Bartok ist dies eine Folter – bis er in einem kurzen unbeobachteten Moment außerhalb seines Zimmers einen Wagen mit Büchern erspäht. Wahllos nimmt er das zuoberst liegende Exemplar und ist dann enttäuscht, als sich dieses als Dokumentation von bedeutenden Schachpartien herausstellt. Zuvor hatte Bartok Schach noch als „Spiel für preußische Generäle“abgetan, doch nun beginnt er, sich Figuren zu basteln und gegen sich selber anzutreten. Parallel dazu steht ihm in der Handlungsebene auf dem Schiff ebenfalls eine Partie bevor – gegen den unbesiegbar scheinenden Schachweltmeister.
Kenner der Vorlage müssen sich auf einige Änderungen einstellen, die Stölzl und Drehbuch-Co-Autor Eldar Grigorian vorgenommen haben. Der wandlungsfähige Opern-, Musikvideound Filmregisseur – seine Inszenierung
des „Rigoletto“auf der Bregenzer Seebühne unterstreicht seine Vielseitigkeit – attestiert der Vorlage eine komplexe literarische Struktur, die aber „für einen Film eher langweilig“sei. Deshalb hat er neue Figuren wie Bartoks Ehefrau und den Gestapo-Mann hinzugefügt und konzentriert sich ansonsten auf die äußeren und inneren Kämpfe seiner Hauptfigur. Für die hat er mit dem nicht minder wandlungsfähigen Oliver Masucci eine herausragende Besetzung gefunden, dessen intensives Spiel weniger schlüssige Passagen überstrahlt. Auch Albrecht Schuch überzeugt als Gestapo-Mann. Zwar ist die Figur des nach außen kultiviert auftretenden Nazi-Offiziers in Filmen schon längst zum Klischee, wenn nicht zur Karikatur verkommen. Dem Theater- und Filmschauspieler („Systemsprenger“) gelingt es aber, sanfte Oberfläche und darunter lauernde Bedrohung auf verstörende Weise zu verbinden.
So ist die Neuverfilmung der „Schachnovelle“– es gibt bereits einen werkgetreueren Film aus dem Jahr 1960 mit Curd Jügens – über weite Strecken eine so eindringliche wie beunruhigende Erfahrung. Das ist durchaus angemessen für die Adaption eines Werks, dessen Autor sich noch vor dem Erscheinen im brasilianischen Exil das Leben nahm. Stölzl hat allerdings auch am Ende des Geschehens eine Änderung vorgenommen, die gewisse Erinnerungen an Terry Giliams „Brazil“weckt und als zumindest ein wenig tröstlich wahrgenommen werden kann – allerdings erst, nachdem die Hauptfigur einen sehr hohen Preis gezahlt hat.
Schachnovelle. Regie: Philipp Stölzl. Mit Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr. Deutschland 2021. 112 Minuten. FSK ab 12.