Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Hemmschwelle wird geringer
Nach Bürgermeister-Vorfall: Verbale und körperliche Attacken auf Beamte nehmen zu
EHINGEN - „Bürgermeister wehrt Messerangriff ab“, ist eine Überschrift, die aufhorchen lässt. Der Angriff auf Untermarchtals Bürgermeister Bernhard Ritzler ist leider kein Einzelfall. Immer wieder werden Amtsträger, Verwaltungsmitarbeiter oder Lehrer entweder verbal beleidigt oder sogar körperlich bedroht.
Auch Ehingens Oberbürgermeister Alexander Baumann war von der Nachricht aus Untermarchtal schockiert. „Das hat auch in meinen Augen nichts mit Corona und der Krise zu tun. Auch ich kann feststellen, dass gefühlt seit vier oder fünf Jahren etwas in der Gesellschaft passiert ist. Meine Sorge und auch Feststellung ist, dass Toleranz und Respekt sehr zurückgehen. Intoleranz und Respektlosigkeit in der Gesellschaft nehmen zu“, erklärt das Ehinger Stadtoberhaupt. „Mir sind zwar Gott sei Dank bisher keine körperlichen Angriffe auf Mitarbeiter von mir oder auf mich bekannt. Ich persönlich habe so etwas noch nie erleben müssen. Was aber passiert, ist, dass die Menschen zunehmend aggressiver gegenüber meinen Mitarbeitern auftreten. Solche Dinge gibt es tatsächlich“, sagt der Oberbürgermeister und betont: „Unsere Politessen erleben solche verbalen Entgleisungen und Beleidigungen leider sehr oft. Wir als Stadt haben solche Dinge auch bereits zur Anzeige gebracht.“Aber nicht nur die Politessen müssen sich Beleidigungen aller Art gefallen lassen. „Das passiert auch immer öfters bei anderen Mitarbeitern, die teilweise übelst angebrüllt werden“, so Baumann, der sagt: „Bei 27 000 Bürgern sind natürlich immer ein paar dabei, die neben der Spur laufen. Da bekomme auch ich oft Briefe oder E-Mails, in denen ungerechtfertigte Vorhaltungen gemacht werden. Das nimmt zu.“Auch der Umgang in der Gesellschaft, so Baumann, würde sich verändern. „Ich bin kein Psychologe, aber da haben schon auch die sozialen Medien und die Anonymität etwas damit zu tun. Da fehlt oft der Respekt“, sagt Baumann.
Eine, die sich sehr gut damit auskennt, was in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram oder Twitter abgeht, ist Judith Wolf, Kriminalhauptkommissarin und zuständig für den Bereich soziale Medien beim Polizeipräsidium Ulm. „Der Respekt vor anderen sinkt deutlich. Die Hemmschwelle vor Beleidigungen wird immer niedriger, der Ton wird immer rauer“, sagt Wolf, die auch eine gewisse Aggressivität der Menschen spürt. „Was wir natürlich auf unseren eigenen Seiten merken, ist, dass die Menschen etwas vorsichtiger sind, weil sie es ja direkt mit der
Polizei zu tun haben. Als wir aber beispielsweise über die Kontrollen zur Maskenpflicht über die sozialen Netzwerke informiert haben, gab es schon auch heftige Kommentare“, erklärt die Kriminalhauptkommissarin.
Dass der Ton rauer wird, zeigt sich bisweilen auch an den Schulen. Immer wieder hört Alexander Bochtler, der die Ehinger Realschule leitet und als geschäftsführender Schulleiter in Ehingen tätig ist, dass es zu verbalen Entgleisungen von Eltern gegenüber Lehrern kommt. „Noch ist das an der Realschule aber selten“, ergänzt er. Der Schulleiter hat aber auch von Fällen an anderen Schulen gehört. Meist sind es Kraftausdrücke oder Beleidigungen, die sich die Lehrer anhören müssen, wenn Eltern mit Noten oder
Maßregelungen nicht einverstanden sind. Körperliche Auseinandersetzungen gibt es sehr, sehr selten. Glücklicherweise, so Bochtler, ließen sich die Situationen im persönlichen Gespräch meist klären.
Das empfiehlt er auch seinen Lehrkräften. Denn per E-Mail kommt es leicht zu Missverständnissen, die Korrespondenz geht hin und her, ohne dass sich die Situation wirklich klärt. Bei solchen Gesprächen sind an der Realschule dann häufig die Kinder dabei, die dann auch selbst zur Klärung des Sachverhaltes beitragen können. „Das ist natürlich alles sehr zeitintensiv“, ergänzt er.
Das alles sind Entwicklungen, die auch Alexander Bochtler nicht erst in den vergangenen Monaten feststellt.
„Das merkt man seit ein paar Jahren, dass der Ton schärfer wird und die Eltern meist per E-Mail beharrlicher nachfragen und noch mal nachhaken, wenn sie mit einer Antwort nicht zufrieden sind“, sagt er in der Rückschau.
„Es ist erschreckend, dass Menschen, die ein öffentliches Amt ausüben oder versuchen, Regeln durchzusetzen, die zum Wohle aller erlassen wurden, immer häufiger Opfer von Einschüchterung, Attacken und Gewalt werden“, zeigt sich Landrat Heiner Scheffold entsetzt über den Vorfall in Untermachtal.
„Der Mord in Idar-Oberstein, die Übergriffe auf Helfende nach der Flutkatastrophe oder jetzt der bewaffnete Angriff auf Bürgermeister Ritzler – ich glaube, all diese Ereignisse sind Ausdruck einer Verrohung, die durch die zunehmende verbale Hassrede im Internet und in manchen anderen Medien befeuert wird“, vermutet der Landrat. Von solchen Angriffen sind auch er und seine Mitarbeitenden immer wieder betroffen.
Natürlich wende nicht jeder, der respektlos online gegen andere hetzt, auch Gewalt an. Durch diesen Ton könnten sich Dritte aber bestärkt darin fühlen, Gewalt gegen Mitmenschen einzusetzen, so Scheffold, der klar fordert: „Die Bundesregierung muss hier härter durchgreifen und strengere Gesetzesgrundlagen schaffen, um solche Entwicklungen im Keim zu ersticken. Schon bei Hassreden im Internet muss der Staat ganz klarmachen, dass er einen solchen Umgang mit regeltreuen Bürgerinnen und Bürgern oder Personen, die ein Amt bekleiden, nicht duldet.“
Da sich die Diskussionskultur auch im Landratsamt in den vergangenen Jahren verschlechtert hat, setzt man hier auf regelmäßige Kommunikationsschulungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in denen der generelle Umgang mit herausfordernden Situationen trainiert wird.