Schwäbische Zeitung (Biberach)
„Es besteht eine starke Neigung zum Operieren“
Experte Heller warnt bei Arthrose vor verfrühten Eingriffen und überholten Vorstellungen von der Krankheit
Eigentlich gilt die Arthrose als Gelenkverschleiß, und der sollte vor allem ältere Menschen treffen. Doch laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bekommen immer mehr Menschen unter 60 Jahren ein neues Kniegelenk, mittlerweile liegen hier die OP-Zahlen bei knapp 35 000. Jörg Zittlau sprach daüber mit Professor Karl-Dieter Heller von der Orthopädischen Klinik am Herzogin Elisabeth Hospital in Braunschweig.
Werden die Arthrose-Patienten tatsächlich immer jünger? Es stimmt, dass immer mehr jüngere Menschen ein neues Gelenk bekommen. Doch das hat ja mehrere Ursachen. So kann es natürlich sein, dass mehr junge Leute als früher erkranken. Erstens, weil das Übergewicht unter ihnen dramatisch zugenommen hat; und zweitens, weil sie heute öfter einen exzessiveren und gelenkintensiveren Sport betreiben. Ebenso sind aber viele unter 60Jährige auch nicht mehr bereit, bis zur maximalen Schmerzausprägung zu warten, sodass sie sich früher operieren lassen. Ganz zu schweigen davon, dass leider mittlerweile – wegen der besseren technischen Voraussetzungen, des großen Angebotes an implantierenden Ärzten und einer schlecht honorierten nichtoperativen Therapie – insgesamt eine starke Neigung zum frühen Operieren besteht.
Sie nannten vorhin den Sport als mögliche Ursache für die Arthrose schon in jungen Jahren. Gibt es Sportarten, die besonders risikoträchtig sind?
Alles, was mit Stopp und Go, also mit Bremsen und Beschleunigen zu tun hat. Beispielsweise die meisten Ballsportarten, wie etwa Fuß-, Basketund Volleyball. Ob das allerdings am Ende früh zu einer Arthrose führt, liegt auch wesentlich an der Intensität: Es muss auch eine Überlastung vorliegen. Nicht selten sind auch in das Gelenk hineinziehende Brüche der Auslöser.
Also insgesamt vorsichtig herangehen an den Sport?
Sagen wir besser: Mit Augenmaß. Ansonsten ist Sport natürlich auch etwas, mit dem wir uns vor Arthrose schützen, weil wir mit ihm Muskeln aufbauen, die das Gelenk entlasten. Außerdem zeigen Studien, dass bei reduzierter Aktivität und Bewegungsmangel der Gelenkknorpel dünner angelegt wird. Und wenn nur wenig Knorpelmasse da ist, wird man dort auch früher Abnutzungserscheinungen bemerken.
Was sind die Frühwarnzeichen einer Arthrose?
Alles wird über den Schmerz getriggert. Er kommt mit dem Knorpelabrieb am Gelenk, wodurch es zu einer Schleimhautentzündung kommt. Die führt wiederum dazu, dass der Betroffene
eine Schonhaltung einnimmt, die ihrerseits auch wieder Schmerzen auslösen kann. Schließlich haben wir eine Bewegungseinschränkung des Gelenks. Was beim Knie bedeutet, dass es nicht mehr gestreckt werden kann. Und bei der Hüfte, dass sie nicht mehr gedreht werden kann.
Und kann das jemals wieder besser werden? Kann man also darauf hoffen, dass sich die Knorpelmasse wieder aufbaut?
Nein. Die Arthrose gilt als irreversibel. Es gibt noch kein verfügbares Medikament, das verlässlich einen Wiederaufbau des Knorpels in Gang setzen könnte. Man muss ja ohnehin bedenken, dass der Schmerz weniger vom Knochen kommt oder davon, dass blanke Knochenflächen aufeinander reiben. Er kommt vielmehr von der Entzündung, die sich im Gelenk gebildet hat. Wenn wir einen Hüftpatienten mit schwersten Schmerzen bei uns auf dem OP-Tisch haben, quillt uns beim Aufschneiden der Gelenkkapsel in der Regel sofort die entzündete Schleimhaut entgegen. Der Schmerzgrad korreliert meiner Meinung nach mit der Entzündung im Gelenk. Hyaluronsäure und Corticoide können diese eindämmen, aber eben auch nur zu einem gewissen Grad.
Und wann ist der Zeitpunkt für die OP und ein neues Gelenk?
Die Grundvoraussetzung für jedes künstliche Gelenk ist ein ausgeprägter Röntgenbefund, eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität, wobei dies sehr unterschiedlich empfunden wird, und eine ausgereizte konservative Therapie. Die Frage nach Gelenkersatz stellt sich erst, wenn solche Dinge wie Physiotherapie und schmerzstillende Medikamente eingesetzt worden sind und nichts mehr bringen.
Wie hoch ist denn überhaupt die Erfolgsquote beim Einsetzen eines neuen Gelenks?
Erfolg heißt für mich, dass der Patient zufrieden ist und einen Gewinn an Lebensqualität verspürt. Und das ist bei 98 Prozent aller Hüftprothesen der Fall. Beim Knie sind es etwa 80 Prozent.
Das ist ja schon deutlich weniger …
Ja, Sie können sogar sagen: Die Hüfte wird nahezu immer gut, es sei denn, man hat Komplikationen. Doch beim Knie können Sie noch so gut operieren, und doch haben Sie womöglich am Ende einen Patienten, der sagt: „Naja, das habe ich mir besser vorstellt.“Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist der Anteil jüngerer Patienten unter den Knieprothesen höher, und die haben eine höhere Erwartungshaltung an ihr neues Gelenk, sodass sie eher enttäuscht sind. Zum anderen ist das Knie deutlich komplizierter aufgebaut als die Hüfte. Da geht es um Millimeter, um Winkel von ein oder zwei Grad. Die Feinjustierung fällt da viel schwerer.
Ein Leben mit dem neuen Gelenk hängt ja auch wesentlich davon ab, was der Patient damit macht, wie er also mit sich und seinem neuen Gelenk umgeht. Sollte er also nicht vorher auch so eine Art Endoprothesen-Führerschein machen?
Wir setzen eigentlich immer voraus, dass der Patient motiviert ist und auch nach der Operation sorgsam mit sich und seinem Gelenk umgeht. Aus diesem Grunde geben wir ihm schon vorher eine Schulung, wie er sich nach der OP zu verhalten hat, wie er den Erfolg des Eingriffs durch eigene Maßnahmen absichern kann. Aber es kommt dann natürlich schon entscheidend auf die Motivation des Patienten an. Unmotiviert und ohne Kooperationsbereitschaft wird er schon bald erleben, wie sein neues Kniegelenk immer unbeweglicher wird.