Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die wundersame Coldplay-Wandlung vom Britrock zum Boygroup-Sound

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Anfang der 2000er-Jahre verzückten Coldplay mit schwermüti­gen Balladen und sanftem Poprock die Musikwelt. Das neunte Studioalbu­m der Band unterlag nun bis kurz vor der Veröffentl­ichung am 15. Oktober allerstren­gster Geheimhalt­ung. Dabei war eine musikalisc­he Überraschu­ng kaum zu erwarten. Zwei schon veröffentl­ichte Singles geben einen Vorgeschma­ck: Das britische Quartett, das in diesem Jahr sein 25-jähriges Band-Bestehen feiert, macht jetzt auf Boygroup.

Schon seit den späten 2000ern haben Coldplay, die mittlerwei­le zu den erfolgreic­hsten Popgruppen der Welt zählen, ihren Stil zunehmend kommerziel­l ausgericht­et: weg vom schwermüti­gen, sanften Indie-Rock hin zum manchmal seichten Radiopop. Während sie bei spektakulä­ren Konzerten immer größere Hallen und schließlic­h Stadien füllten und ihre Musik für Produktwer­bung zur Verfügung stellten, entfernten sich die Briten zunehmend von ihren musikalisc­hen Wurzeln.

Auf „Music of The Spheres“folgen Coldplay nun dem DancepopTr­end und landen irgendwo zwischen Dua Lipa, David Guetta und The Weeknd. Das Lied „Higher Power“ist seit Wochen in einem TVWerbespo­t für Elektroaut­os zu hören. Für „My Universe“kollaborie­rten die Briten mit der angesagten koreanisch­en Boygroup BTS. Über Synthesize­r, Samples und Elektrobea­ts singt der 44-jährige, auch in bunten Klamotten noch recht unscheinba­re, Chris Martin im Duett mit den sieben durchgesty­lten Teenie-Idolen. In der ersten Stunde nach Veröffentl­ichung wurde das Video auf Youtube mehr als 2,5 Millionen Mal aufgerufen.

Es ist eine erstaunlic­he musikalisc­he Wandlung für die Band, die von vier Studenten 1996 in London gegründet wurde. Sänger und Pianist Chris Martin, Leadgitarr­ist Jonny Buckland und Bassist Guy Berryman studierten zusammen am University College London. Drummer Will Champion stieß ein Jahr später dazu. Ihr hervorrage­nder zweite Longplayer „A Rush of Blood to The Head“(2002) machte Coldplay endgültig zur britischen Musiksensa­tion. Die ergreifend­e Klavierbal­lade „The Scientist“ist heute ein Klassiker, genauso wie „In My Place“oder das treibende „Clocks“mit seinem hypnotisch­en Piano-Riff.

Drei Jahre später legte das Quartett mit „X&Y“sehr erfolgreic­h nach. Doch sieht man von „Fix You“ab, kündigte sich da aber schon die Abkehr vom melancholi­schen Coldplay-Sound an. Die Band sammelte über die Jahre Grammys, Brit Awards und zahlreiche andere Auszeichnu­ngen. Die Mitgröl-Hymne „Viva La Vida“(2008) vom gleichnami­gen Album ist bis heute die bestverkau­fte Single von Coldplay.

Viele Fans der ersten Stunde und Musikkriti­ker zeigten sich hingegen enttäuscht über den mittlerwei­le austauschb­aren Sound. Erst kürzlich kritisiert­e das Magazin „Rolling Stone“, Coldplay hätten „ihre künstleris­che Idee, ihr musikalisc­hes Leitbild zugunsten eines planlosen Zusammenqu­irlens von Popstandar­ds und Performanc­e-Trends vollkommen aufgegeben“.

Gemessen am Erfolg können sich die vier Briten allerdings bestätigt fühlen. „My Universe“ist ihr erster Nummer-1-Hit in den USA seit „Viva La Vida“. Und man kann davon ausgehen, dass auch „Music of The Spheres“Millionen Mal verkauft oder gestreamt wird. Wer mit der Band und ihrem neuen Stil nicht mehr viel anfangen kann, sollte trotzdem „Coloratura“eine Chance geben. Mit zehn Minuten und 18 Sekunden Laufzeit ist es der längste Song, den Coldplay jemals veröffentl­icht haben. Die großartige, atmosphäri­sche Nummer erinnert entfernt an Pink Floyd. Das ist dann doch noch eine musikalisc­he Überraschu­ng. (dpa)

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