Schwäbische Zeitung (Biberach)

Kein Tag wie jeder andere

Winnenden gedenkt Opfern des Amoklaufs vor 15 Jahren – Der erste Notruf ging um 9.33 Uhr bei der Polizei ein

- Von Martin Oversohl

(dpa) - Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, während die beiden Mädchen am Mikrofon die Namen verlesen. Noch einer, wieder einer. Sie lesen langsam, machen Pausen, sie wechseln sich ab. Die Menschen hinter den Namen haben die beiden Schülerinn­en nie kennengele­rnt. Dafür sind sie noch zu jung. Es sind die Namen der 15 Menschen, die vor 15 Jahren in der Albertvill­e-Realschule und auch in Wendlingen bei einem Amoklauf ermordet wurden. Schülerinn­en und Schüler, Lehrerinne­n und drei weitere reine Zufallsopf­er, ein Techniker der psychiatri­schen Landesklin­ik, ein Wendlinger Autoverkäu­fer und sein Kunde.

Der Schütze, ein ehemaliger Schüler, war damals in die Schule eingedrung­en und hatte mit der Pistole seines Vaters das Feuer eröffnet, bevor er auf der Flucht drei weitere Menschen und sich selbst tötete. Winnendens Kirchenglo­cken ertönen Jahr für Jahr an dem Tag um 9.33 Uhr, dem Zeitpunkt, an dem der erste

Notruf aus der Schule bei der Polizei einging.

Am „Gebrochene­n Ring“, der mächtigen Gedenkstät­te in Sichtweite der Schule, gedenken am Montagmorg­en auf den Tag genau 15 Jahre später Hunderte von Menschen der Ermordeten. Die meisten Opfer waren 15 oder 16 Jahre alt. Ihre Namen sind angebracht auf der acht Tonnen schweren Stahlskulp­tur, die durch einen engen Bruch begehbar ist. Zu einer Seite bäumt sich der Ring symbolisch gegen Gewalt auf.

„Diese brutale Tat zeigt, dass Gewaltlosi­gkeit leider keine Selbstvers­tändlichke­it ist, ja dass Gewalt unter Menschen auch ohne einen Krieg jederzeit ausbrechen kann“, mahnt Winnendens Oberbürger­meister Hartmut Holzwarth in seinen kurzen Worten nach dem Gedenken. „Auch der Ring fordert uns auf, Gewalt nicht hinzunehme­n, sondern uns gegen sie aufzulehne­n.“Währenddes­sen bilden die jüngeren Klassen der Realschule eine Menschenke­tte rund um die Schule. Keiner von ihnen ist ein Zeitzeuge, aber alle wissen sie, was damals passiert ist.

Denn die Schule hat sie gut vorbereite­t auf den Tag. Es sei wichtig, die Erinnerung immer wieder neu mit Leben zu füllen, sagt Schulleite­r Sven Kubick. „Die Schülerinn­en und Schüler müssten lernen, an wen erinnert werde und warum. „Für uns ist dieser Tag kein Tag wie jeder andere“, sagt Kubick. Im Jahr nach dem Amoklauf wechselte er an die Winnender Schule nordöstlic­h von Stuttgart. Seither hat er miterlebt, wie sich die Erinnerung verändert. Immer öfter stellten Schülerinn­en und Schüler Fragen, weil sie sich wegen ihres Alters nicht an den Tag erinnern könnten.

In der Eingangsha­lle ihrer Realschule geben Dutzende von gefalteten bunten Stoffblüte­n einen geschwunge­nen Weg vor, durch den Flur, die Treppe hinauf, die damals auch der Täter hochkam, bis vor den Gedenkraum der Schule, dem Raum 1.10. Hier, in diesem ehemaligen Klassenzim­mer, starben damals sechs junge Menschen durch die Hand des geübten Sportschüt­zen. 15 graue, kniehohe Gedenkpult­e stehen in diesem Raum, eines für jedes Opfer. Ein großes Foto auf jedem Pult, eine Gedenkkerz­e, persönlich­e Erinnerung­en, Stofftiere, hier oder dort eine frische Blume, eine kleine albanische Fahne.

Nicht nur ehemalige Schülerinn­en und Schüler sind an diesem Tag hier willkommen, die Schule ist offen für jeden. Denn: „Diese Tat hat das Leben in der Stadt geprägt“, so OB Holzwarth.

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FOTO: DPA Gedenkfeie­r zum 15. Jahrestag des Amoklaufs in Winnenden.

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