Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Schafsherde war seine Familie
Wanderschäfer Sven de Vries hat nach 15 Jahren seine Herde verkauft – Was ihn zu dem Schritt bewogen hat
- Wanderschäfer Sven de Vries hat keine Schafe mehr. Er hat sie abgegeben. Denn Sven de Vries hat seinen Beruf an den Nagel gehängt. Erst vor wenigen Tagen hat er sich von seiner Herde verabschiedet – nach 15 Jahren mit seinen 500 Schafen unterwegs zwischen Schwäbischer Alb und Oberschwaben. „Es ist nicht so leicht, sich zu lösen“, sagt er über seine Schafe. „Es tut auch ein bisschen weh.“Doch am Schluss haben die Argumente überwogen, die ihn zum Aufhören bewogen haben. Damit stand fest: Er hängt seine Wanderschäferei, die unter dem Namen Paula und Konsorten auch Fleisch und Wolle der Schafe vermarktete, an den Nagel.
„Ich habe ordentlich Federn gelassen in den letzten Jahren“, sagt de Vries über seinen Job. „Es war nicht wirklich möglich, durchzuatmen.“Sein Kopf sei immer voll gewesen mit Fragen wie: Wo sind die Schafe gerade? Wie wird das Wetter die nächsten Tage? Wo sind wir am besten unterwegs? Rund um die Uhr hätten die Schafe und die Schäferei Aufmerksamkeit gebraucht. „Man muss jede Möglichkeit durchdenken“, sagt der 42-Jährige.
Auch die Bedingungen seien in den vergangenen Jahren immer härter geworden. Vor allem der Klimawandel habe ihm und den Schafen zu schaffen gemacht. Im Sommer sei es auf den Wiesen der Alb immer schwieriger geworden, Futter für die Tiere zu finden. „Es war alles verdorrt“, sagt de Vries. Ungefährlich sei der Beruf außerdem nicht. Denn er war auf einem großflächigen Gebiet unterwegs, musste mit den 500 Tieren auch Straßen überqueren. Auch wenn er dabei immer eine Warnweste trug. Einmal übersah ein Autofahrer die Herde. Im letzten Moment habe er den Schäfer bemerkt, sei ausgewichen und an ihm vorbei in die Schafherde gerast, erinnert sich de Vries. Mehrere Schafe seien an dem Tag gestorben.
Er habe jedes Schaf seiner Herde gekannt. „Ich habe außer Schafen nicht viele Freunde gehabt“, sagt de Vries, der in den Sozialen Medien sehr aktiv über seine Arbeit informiert hat. Dass sie jetzt
einen neuen Besitzer haben, stimmt ihn positiv. Dieser wolle zwar noch nicht an die Öffentlichkeit treten, aber es steht fest: Max Frankenhauser, der bereits bei Sven de Vries angestellt war, wird auch bei ihm weiter beschäftigt sein und sich vor allem um die Schafe kümmern. „Sie sind bei Max in wirklich guten Händen“, ist der ehemalige Besitzer der Herde überzeugt.
Für die Flächen auf der Alb seien die Schafe außerdem wichtig. Die kleinen Flächen seien besonders
artenreich, würden jedoch zu weit auseinander liegen, als dass sich die Samen der Pf lanzen zwischen den Flächen austauschen könnten. „Der Wind reicht da nicht als Verbindung“, sagt de Vries. Und genau da kommen die Schafe ins Spiel, die über ihr Fell Samen zwischen den Feldern hin- und hertragen können. Biotopvernetzung nennt sich das. Doch für konventionelle Schäfer seien die relativ kleinen Wiesen wenig interessant. Deshalb habe auch die Suche nach einem
Nachfolger fast ein Jahr gedauert. „In der Gesamtheit hätte es niemanden gegeben, der das einheitlich beweidet“, sagt der ehemalige Schäfer.
Vor wenigen Tagen hat er nun die Herde übergeben. Nachdem er die etwa 500 Tiere abgegeben hatte, sei schlagartig Platz in seinem Kopf frei geworden für andere Dinge, sagt er. 80 Prozent seines Kopfes seien plötzlich praktisch leer gewesen. Auch wenn es noch etwas brauche, bis die neue Realität sich bei ihm breitmache. „Ich habe mir über Jahre angewöhnt, in stressigen Situationen nicht nachzudenken“, sagt er. Jetzt fange er langsam an, in sich „reinzufühlen“, wie er sagt. Es gebe durchaus Momente in denen er traurig sei. „Ich bin emotional an die Region gebunden“, sagt er. „15 Jahre meines Lebens habe ich auf den Weiden da oben verbracht.“
Wie es jetzt weitergehen wird, kann er noch nicht sagen. Zunächst einmal werde er weiter die Wolle der Schafe vermarkten. „Das muss ich machen, um nicht mit Schulden aus der Sache rauszugehen.“Und dann? Vielleicht werde er andere kleine Betriebe bei der Vermarktung ihrer Produkte unterstützen. So könne er das Wissen, dass er erworben habe, nutzen. Auch sein Privatleben könne er jetzt neu ordnen, werde nach Leipzig ziehen. „Für mich war eine Familie neben der Schafherde nur schwer vorstellbar“, sagt er. Das Versprechen, sich so intensiv einzusetzen, könne man nur einmal geben. Da habe die Herde bisher Vorrang gehabt. „Jetzt ist es so, als wenn man in Rente geht oder die Kinder ausziehen“, sagt er. Die Schafe, das seien seine Kinder gewesen.