Schwäbische Zeitung (Biberach)
Schützenhilfe aus den Niederlanden
Brigade aus dem Nachbarland schließt mit schnellen Radpanzern Fähigkeitslücken der süddeutschen 10. Panzerdivision
- In der Letzlinger Heide tobt die klassische Panzerschlacht: Über Nacht hat der Gegner, der von Süden angreift, Gelände nördlich der Ortschaft Colbitz zurückerobert: „Nun wollen und werden wir den Feind wieder vertreiben“, ruft Hauptmann Tom S. seinen Männern zu, die sich vor drei Radpanzern versammelt haben. Der Offizier, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, gibt noch einige Hinweise, dann kommt der Befehl: „Aufsitzen!“Schnell und leise, wie sie gekommen sind, setzen sich die Radpanzer in Bewegung – Richtung Süden, Richtung Feind.
Es ist nur eine Übung, doch der Hintergrund ist ernst. Hauptmann Tom S. und seine Soldaten gehören zur 13. Leichten Brigade des niederländischen Heeres, die derzeit mit 4500 Männern und Frauen den Kampf am Boden, aber auch die bodengestützte Luftverteidigung in der Letzlinger Heide übten. Ihre Übung ist Teil des Manövers „Quadriga 24“, der größten deutschen Militärübung seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Am Montag ist diese Übung in ihre Schwerpunktund damit letzte Phase gegangen, in den kommenden Tagen und Wochen werden die Niederländer und ihre deutschen Kameraden nach Litauen aufbrechen. „Quadriga 24“wiederum ist integriert in eine Serie von Manövern und Übungen der Bundeswehr und der Nato, den Rahmen bildet das Nato-Großmanöver „Steadfast Defender“(Standhafter Verteidiger). Mit 90.000 Soldaten aus allen 32 Bündnis-Nationen soll nach NatoAngaben als Ernstfall ein russischer Angriff auf Bündnisgebiet geprobt werden.
Besonders im Fokus: „Die rasche Verlegung großer Truppenteile“, wie Generalleutnant Alexander Sollfrank sagt. Das Ulmer Nato-Kommando JSEC, das Sollfrank kommandiert, plant die Verlegung und Versorgung der Bündnistruppen von der Ostküste der Vereinigten Staaten bis an die Ostf lanke der Nato. Aus allen Nato-Ländern würden Kräfte an die Ostf lanke verlegt: „Die Übungen fungieren als ein klares Signal der Abschreckung an jeden Aggressor“, betont Sollfrank und fügt hinzu: „Wir müssen uns hier für den Verteidigungsfall vorbereiten.“
Die Bundeswehr stellt rund 12.000 Soldatinnen und Soldaten sowie 3000 Fahrzeuge für die Übungsserie, also wird es auf
Deutschlands Straßen und Schienen voller und lauter werden: „In den kommenden Wochen werden wir der Bevölkerung schon einiges zumuten“, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, am Montag in Berlin. „Das ist die Zeitenwende, mindestens die militärische Zeitenwende“, erklärte Deutschlands höchstrangiger Soldat. Die Bundesrepublik habe Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit gemacht. „Die Bundeswehr muss gerade in diesen Zeiten üben, üben und nochmals üben. Jeder Handgriff muss in diesem Handwerk auch sitzen.“
Zurück in die Letzlinger Heide. Dort beobachtet der Kommandeur der 10. Panzerdivision der Bundeswehr, Generalmajor Ruprecht von Butler, das Vorgehen der niederländischen Soldaten. Seit Ende März vergangenen Jahres gehört die mit 250 Radpanzern ausgestattete 13. Leichte Brigade zu von Butlers vornehmlich in Süddeutschland stationierten, derzeit 22.000 Soldaten umfassenden Division: „Die Niederländer ergänzen und verstärken unsere deutschen Fähigkeiten ganz erheblich, weil sie schnell, beweglich und f lexibel agieren können. Sie können mit hohem Tempo in den Operationsraum fahren, um dort zu kämpfen“, sagt der General und fasst zusammen: „Wirkungsmöglichkeiten, Mobilität und Schutz.“
Der Bundeswehr fehlten bisher, wie es aus Militärkreisen heißt, diese nun von den Niederländern
abgesicherten Fähigkeiten, die Militärfachleute als „Mittlere Kräfte“bezeichnen: „Landstreitkräfte müssen in der Lage sein, den Feind glaubhaft abzuschrecken und im Ernstfall Gelände auch außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets zu verteidigen. Für diesen Auftrag werden flexible und hochmobile Kräfte gebraucht. Dazu klafft derzeit noch eine operative Lücke in den Fähigkeiten des Heeres.“Schwere Panzerverbände mit Kettenfahrzeugen wie dem Kampfpanzer Leopard 2 oder dem Schützenpanzer Puma sind für diese Aufgaben nicht geeignet. Unter der Überschrift „Die Renaissance des Rades“heißt es: „Radbewegliche Kräfte bieten eine effektive,
schlagkräftige Kombination aus Wirkungsmöglichkeiten, Mobilität und Schutz. Im Konfliktfall können sie als schnell verlegbarer und zugleich stärker durchsetzungsund durchhaltefähiger ,operativer Türkeil’ die notwendige Zeit zum Einsatz weiterer, vor allem Schwerer Kräfte, verschaffen.“
Generalmajor von Butler ist froh, dass die Niederländer ihre Fähigkeiten, schnell von A nach B zu kommen, bereits bewiesen haben und weiter beweisen werden: „Wir haben die 550 Kilometer von unserer Kaserne in der Nähe von Eindhoven zum Truppenübungsplatz im Straßenmarsch zurückgelegt“, sagt der Kommandeur der Niederländer, Brigadegeneral
Gert-Jan Kooij, „wir sind mit etwa 700 Fahrzeugen unterwegs.“Generalmajor von Butler verdeutlicht: „In dieser Zeit hätten wir Deutsche gerade die Bahnverladung unserer Panzer geschafft.“Und es geht weiter: Nach der Ausbildung im Übungszentrum wird ein Teil der niederländischen Brigade wiederum per Straßenmarsch quer durch Polen durch die Suwalki-Lücke bis nach Litauen verlegt. In diesen Tagen brechen auch Teile der deutsch-französischen Brigade ins Baltikum auf: Am Ende der Manöverserie steht eine gemeinsame Übung.
Die Generäle von Butler und Kooij haben an diesem Vormittag genügend Zeit, den Journalisten über die Entwicklung ihrer Division
zu berichten, denn auf dem Truppenübungsplatz verläuft der Angriff, den der eingangs erwähnte Hauptmann Tom S, führt, planmäßig. Einzelne Staubwolken lassen ahnen, wo die Radpanzer unterwegs sind.
Von Butler, der im Herbst das Kommando über seine Division übergibt und in eine Nato-Verwendung wechselt, sieht den Großverband auf einem guten Weg, der im Bündnis genau verfolgt wird: Denn bis Anfang kommenden Jahres soll die „10.“als „Division 25“die erste voll ausgestattete und kaltstartfähige Heeresdivision sein, die Deutschland der Nato versprochen hat. Die „Initial Operational Capability“sei in den kommenden Monaten herzustellen, ist sich der General sicher, „85 Prozent des Materials sind da.“Entscheidend sei die Ausbildung: „Und die ist gesichert.“Die Division wäre dann nach von Butlers Worten bereit, mit „gewissen Abstrichen“eingesetzt zu werden. Bis zu einer vollständigen Einsatzbereitschaft („Full Operational Capability“) dauere es aber noch. Ein Zeitraum von bis zu zwei Jahren sei denkbar.
Ob in diesen zwei Jahren weitere Fähigkeitslücken zu schließen sind, bleibt aber fraglich. Innerhalb der 10. Panzerdivision sei wieder ein Flugabwehrbataillon geplant, erläutert von Butler. Die Heeresf lugabwehrtruppe war vor über zehn Jahren ersatzlos aufgelöst worden: Aus heutiger Sicht ein schwerer Fehler, der nur langsam wiedergutzumachen ist. Die Beschaffung der nötigen Flugabwehrpanzer sieht von Butler auf einem guten Weg. Doch auch die Produktion nehme Zeit in Anspruch. Teils werde diese Lücke bereits durch die niederländische Brigade innerhalb der Division geschlossen. Wie die Bundeswehr die Bedrohung durch Drohnen bekämpfen würde, ist offen. Und über all dem steht der Mangel an Munition wie auch die schleppende Nachbeschaffung der an die Ukraine abgegebenen Waffensysteme
Auf dem Gefechtsfeld in der Altmark neigt sich der Tag dem Ende zu: Die Stunde der Instandsetzer ist gekommen, die beschädigte Fahrzeuge, Waffen und elektronische Systeme reparieren. Der Nachschub rollt. Wie sieht die Bilanz der Niederländer aus, welche Perspektiven nehmen sie mit nach Litauen? „Im direkten Truppenvergleich mit den Russen, die in der Ukraine kämpfen, sind wir besser“, ist sich Brigadegeneral Gert-Jan Kooij sicher, „den Vergleich gewinnen wir.“