Schwäbische Zeitung (Biberach)
Ein Jahrhundert Musikverein in Reinstetten
Höhepunkte, Tiefschläge und Erfolge – Ein Blick in die Chronik des MVR
- Ein Dorf feiert seinen Verein: Von Samstag bis einschließlich 1. Mai dreht sich in Reinstetten alles um den Musikverein. Vor 100 Jahren haben ihn junge Burschen gegründet. Wir blättern durch die Chronik. Sie erinnert an bittere und bescheidene Zeiten, genauso aber an große Tatkraft, Freude und eine begehrte Währung: Wurst.
29 musikbegeisterte junge Männer taten sich im November 1924 zusammen, probten und machten die Gründung im Januar 1925 schließlich amtlich. Gustav Espenlaub aus Mittelbuch wurde als Dirigent gewonnen. Er ging die zehn Kilometer lange Wegstrecke jede Woche zu Fuß nach Reinstetten und wieder zurück. Von jedem Mitglied erhielt er 3,50 Reichsmark im Monat. „ein nicht geringes Opfer, denn Inflation und Rezession ermöglichte nur wenigen einen befriedigenden Verdienst“, ordnet die Chronik des Vereins diesen Betrag ein. Erste Auftritte und Konzerte folgten nach wenigen Monaten und brachten etwas Geld in die Vereinskasse. In den folgenden Jahren umrahmten die Musiker kirchliche, weltliche und private Feste. In kleinerer Besetzung spielte man auf Hochzeiten und sorgte so für Einnahmen. Ein wichtiger Aspekt für die Musiker war das Hochzeitsmahl, an dem sie bei diesen Gelegenheiten teilhaben durften. Zu solchen Anlässen wurde „meist ein Kalb geschlachtet und man aß nur vom Feinsten“. Auch in den benachbarten Dörfern waren die Reinstetter gefragt. Die ersten Musikfeste 1926 in Wurzach und Jedesheim bestätigten das Können der Reinstetter. Zahllose Pokale, Preise und Urkunden folgten.
Mit der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten kamen neue Aufgaben auf den Verein zu. Die neuen Herren ließen Sonnenwend-, Erster-Mai-Feiern, Mütterehrungen und Parteiveranstaltungen von den Bläsern veredeln. „Im Dorf gab es wohl keine fanatischen Nazis, aber auch keine Helden des Widerstands“, notiert Johannes Angele, der 2006 die Chronik des MV verfasst hat. Der zweite Weltkrieg bedeutete einen schweren Rückschlag für den Verein. Die meisten Musiker wurden einberufen. Stark dezimiert trat man nur noch am Kriegerdenkmal auf, um das Lied vom „Guten Kameraden“zu spielen. 134 Männer aus Reinstetten, Wennedach, Goppersthofen, Laubach und Eichen kehrten nicht aus dem Krieg zurück. Darunter auch mancher Musiker.
Nach dem Krieg übernahm ein Profimusiker die Leitung der Kapelle. Bruno Franz aus Biberach hatte zuvor den Musikzug des Reichsarbeitsdiensts unter sich. Nach Untergang des sogenannten
Dritten Reichs verdingte er sich als Leiter der kleinen Schützenmusik, der Stadtkapelle Biberach und einer Tanzkapelle in Ehingen. Nach Reinstetten lockte ihn ein Honorar in Naturalien. Der damalige Vize-Vorsitzende und Metzgermeister Anton Moll entlohnte ihn mit Wurst und Fleisch. Mit dem militärisch-schroffem Umgangston des Biberachers hatte mancher Musiker Probleme, „doch gelernt wurde viel bei ihm“, notiert der Chronist.
Mit der Kriegszeit hat übrigens eine sehr katholische Tradition des Musikvereins zu tun. Bei einem Luftangriff im heutigen Russland litt ein Reinstetter Musiker Todesangst und gelobte, falls er gesund nach hause komme, jährlich beim Heilig-Blut-Ritt in Wurzach mitzugehen. Seine Musikkameraden schlossen sich an. Seit 1948 sind die Reinstetter Teil der Prozession. Ein Jahr länger schon bereichern sie den Wendelinusritt in Gutenzell, seit 1977 auch den Georgsritt in Ochsenhausen.
Zurück in die Nachkriegszeit: Als die französischen Besatzer für jedes Konzert um Erlaubnis gefragt werden mussten, jedes Tanzvergnügen mit Gebühren belegt war und die Reichsmark das Papier nicht mehr wert war, auf dem sie gedruckt war, da schafften die Reinstetter Musiker das Kunststück, sich eine Heimstätte zu bauen.
Die Gemeinde stellte den Baugrund kostenlos bereit und die französische Obrigkeit erteilte eine Ausnahmegenehmigung vom geltenden Bauverbot. Kies und Zement mussten mühsam herbeigeschafft
werden. Bezahlt wurde, man ahnt es, mit: Wurst und Fleisch von Metzgermeister Moll. Das Bauholz spendeten die Musiker selbst. 1948 wurde das Gebäude eingeweiht. Einen Wasseranschluss gab es nicht, ihren Stuhl mussten die Musiker zur Probe selbst mitbringen. Bis heute wurde das Gebäude mehrmals erweitert und verbessert. Auf dem benachbarten früheren Reitplatz feierte der Verein bis 2019 sein jährliches Zeltfest. Seither ist ein Grundstück am Freyberger Weg Standort der Feier.
Höhepunkte der vergangenen Jahrzehnte waren für den MVR die Kreismusikfeste 1954, 1974 und 2017. An Gänsehautmomente erinnert sich Georg Keller, Vorsitzender von 2000 bis 2010, als der Gesamtchor von 3000 bis 4000 Musikern auf dem Reinstetter Sportplatz die Nationalhymne anstimmte. Auch zwei Reisen in die USA und nach Kanada unternahmen die Oberschwaben. In Städten wie New-Ulm/Minnesota kamen Titel wie das „Kufsteinlied“und „Rosamunde“bestens an. Seit Ende der 1960er-Jahre gehören auch Frauen zum Orchester. Der damalige Dirigent, so heißt es, war von diesem Zuwachs zuerst nicht begeistert. Doch schnell stellte sich die Erkenntnis ein, dass Musikerinnen viel fleißiger üben als die männlichen Kollegen. Die oberschwäbischen Männertrachten bekamen Anfang der 70er-Jahre ein Pendant für Frauen: Mit Minirock. 50 Jahre später hat der Verein mit Daniela Ziesel eine Frau als Vorsitzende.
In den 100 Vereinsjahren verstanden
sich die Mitglieder nicht nur auf Musik, über Jahre und Jahrzehnte organisierten sie einen Faschingsball mit Programm und Tanzband. Im Winter spielten sie Theater. Geblieben sind bis heute das Weihnachtskonzert, die kirchlichen Feste Palmsonntag, Erstkommunion und Fronleichnam, die Reiterprozessionen, sowie Auftritte bei großen Stadtfesten der Region. Regelmäßig ist man auf einem Weinfest in der Pfalz zu Gast. Unterhaltungsmusik in vielen Facetten hat die Kapelle in petto: Von Polka über Schlager bis zu Rock und Pop. „Die Zeiten sind schnelllebiger geworden“, findet Georg Keller. Weiter gebe es Musiker, die dem Verein über Jahrzehnte die Treue halten, sogar aus einem entfernten Wohnort zur Probe kommen, andererseits sei es inzwischen normal, dass man nach ein paar Jahren wieder aussteigt.
Umso zufriedener kann der MV Reinstetten sein, dass er mit seinen rund 60 aktiven Mitgliedern weiter zu den größeren Kapellen der Region gehört. Diese Frauen und Männer sind die nächsten Tage in jeder Hinsicht eingespannt. Denn von Samstag bis Mittwoch feiern sie mit ihren Gästen 100 Jahre Musikverein Reinstetten.
„Inflation und Rezession ermöglichte nur wenigen einen befriedigenden Verdienst“,
heißt es in der Chronik des Musikvereins über die Anfänge vor 100 Jahren.