Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die wirre Weltsicht der Putschisten
Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart hat der erste Prozess gegen die Prinz-Reuß-Gruppe begonnen. Er widmet sich dem sogenannten militärischen Arm der Umstürzler.
- Was sind das für Leute, die in Berlin putschen wollten? Eine Art FreakSchau, vor allem zusammengesetzt aus verwirrten älteren Semestern? Oder handelt es sich um ernst zu nehmende Revoluzzer, die nicht nur die Bundesregierung, sondern gleich das ganze bestehende Staatssystem gefährdet hätten? „Verwirrte Maulhelden“, meint ein Besucher, der am Montag vor dem Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Stuttgart in Stammheim auf den Prozess-Beginn gegen neun MöchtegernPutschisten wartet. „Rechtsterroristen“glaubt der nächste. „Gefährliche Spinner“, lautet ein weiterer Beitrag. Sofort wird in der Reihe der Wartenden konträr diskutiert.
Was in Stuttgart-Stammheim auf dem Gelände des bekannten Hochsicherheitsgefängnisses anfängt, ist das erste Staatsschutzverfahren, das die sogenannte Gruppe Reuß betrifft. Zur Erinnerung: Der Name kommt von einem selbst in seiner eigenen Familie als wunderlich betrachteten Adeligen. Korrekt heißt er Heinrich XIII. Prinz Reuß war früher Unternehmer, dann einer von zwei Rädelsführern der Verschwörer und sollte nach einem geglückten Putsch eine Art Reichsverweser in einem autoritären Staat werden.
72 Jahre zählt der Herr. Seine Herkunft samt dem Opa-haften Äußeren haben ihn zum Gesicht der Verschwörung werden lassen – und das Klischee einer Rentnertruppe befeuert, zumal tatsächlich viele davon in ihrem sechsten oder siebten Lebensjahrzehnt stehen. Doch Prinz Reuß wird nicht in den zweckmäßig wie kühl wirkenden Stammheimer Gerichtssaal geführt werden. Er steht ab dem 21. Mai vor dem Oberlandesgericht Frankfurt – zusammen mit acht weiteren Angeklagten, darunter dem zweiten Rädelsführer, Rüdiger von P., Jahrgang 1953, einem unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassenen Ex-Fallschirmjägerkommandeur.
Die Frankfurter Angeklagten gelten als politische Führung der Gruppe. In Stuttgart-Stammheim sind hingegen die als militärischer Arm betrachteten Mitglieder angeklagt – etwa Andreas M., 59 Jahre alt, bis zu seiner Verhaftung vor eineinhalb Jahren Oberstabsfeldwebel im Logistik-Bereich des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr, das abgekürzt auch als KSK bekannt und in Calw stationiert ist.
Im Gerichtssaal sind die Uhrzeiger inzwischen auf 10 Uhr gerückt. Die Besucherplätze sind alle belegt. Eigentlich müsste der Prozess jetzt anfangen. Es dauert aber noch ein wenig, bis die neun Angeklagten in Handschellen zu ihren Plätzen hinter der Panzerglasscheibe des Zuschauerraums geführt werden: alles Männer – und vom Augenschein her durchaus ein Kontrast zum eher schrulligen Prinz Reuß. So sieht man Andreas M. sehr wohl den Soldaten an. Auch andere Angeklagte wirken stramm – oder versuchen es wenigstens.
Schon im Vorfeld hatte Andreas Singer, der Präsident des Stuttgarter
Oberlandesgerichts, gegenüber Journalisten gewarnt: „Das sind keine netten Onkels, die irgendwelche komische Ideen haben.“Was natürlich fürs Erste seine persönliche Einschätzung bleibt, zumal er richterlich nicht in den Prozess involviert ist. Und die Zuständigkeit für die Klage liegt in diesem Fall sowieso bei der Bundesanwaltschaft. Zum Auftakt ihrer 600 Seiten langen Anklageschrift besagt sie: „Die Angeschuldigten sind der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens hinreichend verdächtig.“
Darauf stehen üblicherweise mehr als zehn Jahre Gefängnis. Wobei die Angeklagten in ihrer Weltsicht für solche Taten wohl eher an eine letale Bestrafung denken würden. Sie hatten unter sich Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet, die bei einem Vorstoß den Tod beinhalten sollte. Wie ernst so etwas zu nehmen ist, bleibt fürs Erste jedoch dahingestellt. Wobei zumindest einer der Herrschaften bereits eine Bereitschaft fürs Töten bewiesen hat: Markus L. aus Reutlingen, ehedem Sportschütze.
Er sitzt gut beobachtbar hinter der Panzerglasscheibe, hat einen stieren Blick, besonders kurzgeschorene graue Haare wie die meisten seiner Kameraden. Als ein Sondereinsatzkommando der Polizei am frühen Morgen des 22. März seine Wohnung stürmen wollte, feuerte der Mann laut Anklage „aus nächster Nähe zahlreiche gezielte Schüsse ab“.
Nur ein von den Beamten eingesetzter Schutzschild verhinderte wohl Tote. Dennoch verletzte Markus L. zwei Polizisten mit den Schüssen aus einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr des amerikanischen Typs AR 15, in den USA gemeinhin als Waffe für Amokläufe bekannt.
Dies hat dem Mann noch zusätzlich weitere Anklagen eingebracht, darunter versuchter Mord. Wie Markus L. zur Tatwaffe kam, ist dabei eine besondere Erwähnung wert. Laut den Ermittlungen hat er sie aus im Internet erworbenen Einzelteilen zusammengesetzt – komplett ungesetzlich, aber offenbar nicht seine einzige Schusswaffe. 22 Stück hat er nach Angaben der Bundesanwaltschaft
legal besessen. Dazu kommen aber noch „eine Vielzahl nicht registrierter Schusswaffen und sonstiger verbotener Waffen“, wie es in der Anklageschrift heißt.
Auch sonst scheint die Gruppe Reuß erstaunlich gut gerüstet gewesen zu sein. Die Ermittler fanden laut ihren Angaben 382 Schusswaffen, 347 Hieb- und Stichwaffen, 499 Waffenteile, 148.000 Munitionsbestandteile und weitere militärische Ausrüstungsgegenstände wie Gefechtshelme oder schusssichere Westen.
Dies ist weit mehr als etwa bei den im vergangenen November vom Stuttgarter Oberlandesgericht verurteilten zwölf Mitgliedern der als rechtsterroristisch eingestuften Gruppe S gefunden wurde. Bei ihnen ist der Eindruck von im Leben gescheiterter Wichtigtuer sicher nicht falsch. Ihre bewaffnete Schlagkraft lag unter dem, was allein die im Februar verhaftete RAF-Terroristin Daniela Klette in ihrer Berliner Mietswohnung hatte.
Die nach ihrem kleinkriminellen Gründer Werner S. genannte Gruppe hat sich aber aus dem selben Milieu rekrutiert wie die Reuß-Leute: „Reichsbürger“-, Selbstverwalter- und „Querdenker“-Szene verbunden mit Leuten, die der QAnon-Ideologie anhängen. Dieser Irrsinn kommt aus den USA und besagt unter anderem, dass eine globale teuflische Elite Kinder massakriert, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu destillieren. Damit verbunden ist der Glaube, ein „deep state“, also ein tiefer Staat, existiere. Gemäß dieser Vorstellung waltet nicht eine regulär gewählte Regierung, sondern ein ominöser verbrecherischer Geheimbund. Die Bürger sind demnach ferngesteuert.
Rettung, so ist abgehörten Gesprächen zu entnehmen, könne nach Überzeugung der ReußGruppe die „Allianz“bringen, in diesem Fall ein gut meinender Geheimbund, der aus diversen Regierungen, Geheimdiensten und Militärs verschiedener Länder bestehe, darunter jenen aus den USA und Russland. Also ein weiteres Gehirngespinst. Die Putschisten in spe hatten aber tatsächlich einen Verbindungsoffizier zur „Allianz“benannt: Marco v. H., vorbestraft, früher mal
Zeitsoldat beim KSK, nach wie vor eine drahtige Erscheinung mit kantigem Gesicht.
Er kann sogar lächeln. Was zu beobachten ist, als im Besucherraum eine blondierte Frau aufsteht, ihre Jacke öffnet und sich ihm von Weitem zuwendet. Offenbar die Partnerin von Marco v. H. Die beiden grinsen sich danach noch öfters zu. Im Kreis der Verschwörer hat er aber wohl deutlich an Sympathie verloren, denn seine von ihm behaupteten engen Kontakte zur „Allianz“blieben folgenlos. Nach monatelangem Pläneschmieden fanden dies die anderen dann doch seltsam.
Marco v. H. hatte bei der ReußGruppe jedoch noch ein weiteres Eisen im Feuer. Er legt sich ins Zeug, um bundesweit Heimatschutzkompanien aufzubauen. Eine ihrer Aufgaben, so steht es in einem aufgefundenen Grundsatzpapier, sei „Neutralisierung von konterrevolutionären Kräften“nach dem Umsturz. Damit gemeint sind offenbar Linke und Muslime. Rekrutiert werden sollten dafür vor allem Leute mit Verbindung zum Militär und zur Polizei. Was nur höchst rudimentär gelang, selbst wenn sich einige Wirrköpfe zu Schießübungen trafen.
Agiert haben soll die Umsturzmannschaft ab Juli 2021. Sie fiel den Sicherheitsbehörden zeitig durch Gewaltphantasien diverser Beteiligter in sozialen Internetmedien auf. Die Polizei observierte die Entwicklung. Am 7. Dezember 2022 kam es dann zu einer Großrazzia. Sie zog weitere Ermittlungen nach sich. Die Zahl der insgesamt Beschuldigten beträgt inzwischen fast 70 Leute. Es sind jedoch bei weitem noch nicht alle angeklagt. Daneben schätzt die Polizei, dass ein Sympathisanten-Umfeld im niedrigen dreistelligen Bereich existiert.
„Für einen erfolgreichen Putsch reicht das natürlich nicht“, ist aus Kreisen von Sicherheitskräften zu hören. Aber für Mord und Totschlag schon, wird von entsprechenden Experten ergänzt. Auch von der Bundesanwaltschaft werden mörderische Absichten der Truppe besonders betont. Als besonders brisant kann dabei eines ihrer zentraler Vorhaben gelten: die Erstürmung des Reichstags, um Politiker als Geiseln zu nehmen. Nun ist das Parlamentsgebäude schwer gesichert. Die Revoluzzer setzten aber auf die 59-jährige Birgit Malsack-Winkemann, Richterin und bis 2021 Bundestagsabgeordnete der AfD. Weshalb sie bis zum Auff liegen der Gruppe eine Zugangskarte zum Reichstag besaß. Sie führte diverse Verschwörer zur taktischen Auf klärung in den Bau und hätte an einem Tag X einem Sturmtrupp auch die Tür öffnen sollen – und können.
Im Falle eines geglückten Putsches sollte Malsack-Winkemann zur Justizministerin aufrücken. Jetzt wird sie wie Prinz Reuß in Frankfurt vor Gericht stehen. Ein dritter Prozess gegen acht weitere Anklagte beginnt im Juni vor dem Oberlandesgericht München. In Stuttgart werden die neun Angeklagten von 22 Anwälten verteidigt. Rund 300 Zeugen und 13 Sachverständige sollen geladen werden. Angesetzt sind 48 Verhandlungstage.