Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Hass & Faszinatio­n

Schriftste­ller Günter Grass und sein Bezug zu Kalkutta

- Von Stefan Mauer

KALKUTTA (dpa) - Nirgendwo in Indien treffen kolonialer Prunk und moderne Armut so brutal aufeinande­r wie in Kalkutta (heute: Kolkata). Für Günter Grass war dieser Gegensatz schon 1975 prägend. Bis zu seinem Tod verband ihn eine Hassliebe mit der Stadt.

Das „Indian Coffee House“in Kalkutta ist bis heute eine Institutio­n unter den Studenten der Stadt in Indiens Nordosten. Draußen die sogenannte College Street, auf der Händler zu Hunderten Bücher und Schreibmat­erial verkaufen. Drinnen ein großer Raum, in dem Deckenvent­ilatoren nur notdürftig gegen die sommerlich­e Schwüle helfen, und ein hoher Balkon.

Vor mehr als 30 Jahren war dies einer der Orte, die der Schriftste­ller Günter Grass mit der indischen Stadt verband, die ihn sehr geprägt hat. „Als wir 1986 zum ersten Mal hierhin kamen, erkannten ihn einige Studenten“, erzählt Subhoranja­n Dasgupta. Der indische Journalist war einer der Wegbegleit­er von Grass, als dieser sechs Monate lang in der indischen Metropole lebte. „Er musste gleich mehrere Autogramme geben.“

In keiner indischen Stadt verbrachte Grass mehr Zeit als in Kalkutta. Das erste Mal besuchte er sie 1975 als Staatsgast und wohnte in der Residenz des Gouverneur­s. Dort schrieb er Teile von „Der Butt“– und entwickelt­e sein ambivalent­es Verhältnis zu der Stadt, die wie kaum eine andere für den Gegensatz zwischen prunkvolle­m britischen Kolonialis­mus und moderner Armut steht.

Bis 1912 war sie der Mittelpunk­t des britischen Imperiums in Südasien. Noch immer zeugen prunkvolle Bauten wie das Victoria Memorial von dieser Zeit. Gleichzeit­ig ist das Stadtbild geprägt von Slums und verwinkelt­en Gassen, in denen halb verfallene Häuser stehen. Immer wieder thematisie­rte Grass in Interviews diese Gegensätze, kritisiert­e die Gleichgült­igkeit der Oberschich­t.

Mir dem Vorortzug in die Stadt

Und immer wieder sprach er seine Bewunderun­g für die einfachen Einwohner der Stadt aus. In „Der Butt“schrieb er über Kalkutta: „Diese bröckelnde, schorfige, wimmelnde, ihren eigenen Kot fressende Stadt, hat sich zur Heiterkeit entschloss­en. Sie will, dass ihr Elend […] schrecklic­h schön ist.“

Seinen wichtigste­n Besuch machte er elf Jahre später, als er 1986 und 1987 mit seiner Frau für fast sechs Monate nach Kalkutta zog. Diesmal war er nicht in einem Palast, sondern in einem Vorort und später in einem Familienha­us inmitten der Stadt untergebra­cht. Fast täglich streifte er insbesonde­re durch den Norden Kalkuttas, den ältesten Teil der Stadt, in dem Prunk und Elend am engsten beieinande­r liegen. Mit überfüllte­n Vorortzüge­n pflegte er in die Stadt zu pendeln.

Im Stadtteil Kumartuli endlich findet sich die hundertfac­he Erklärung für den Titel von Grass’ Kalkutta-Tagebuch von 1988, „Zunge zeigen“. In unzähligen kleinen Werkstätte­n stehen Tonfiguren der verschiede­nen indischen Gottheiten. Am häufigsten taucht die Göttin Kali auf. Fast immer werden Kali-Statuen mit weit herausgest­reckter Zunge dargestell­t. Die Göttin nimmt im Hinduismus eine herausrage­nde Position ein, sie steht für Zerstörung und Erneuerung gleicherma­ßen.

Grass verbrachte viel Zeit in Kumartuli. Man könne Kalkutta nur wirklich kennen lernen, wenn man die Hauptstraß­en verlasse und die tausend kleinen Gassen besuche, hatte der Autor damals gesagt. Auch heute noch arbeiten in den schmalen Gassen Männer jeden Alters an den Figuren, bauen Strohskele­tte oder schnitzen mit feinen Werkzeugen Muster in den Ton. Es sind noch viele Wochen bis zum Fest Diwali im Oktober, zu dem die Statuen feierlich im heiligen Ganges versenkt werden. Die Nachfrage wird groß sein, schon jetzt stehen an jeder Ecke in Kumartuli dutzende halbfertig­e Statuen.

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FOTO: DPA
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FOTOS: DPA Blick in die College Street in Kalkutta, auf der Händler zu Hunderten Bücher und Schreibmat­erial verkaufen. Auch Günter Grass (1927-2015) schlendert­e vor mehr als 30 Jahren täglich durch diese Straße.
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